Der norwegische Literaturwissenschaftler Jørgen Haugan (1977)
vertritt die These, dass
Henrik Ibsen mit
seinen Stücken vom Jahr 1877 an mehr und mehr zeigt, wie Menschen,
die scheinbar Idealen folgen, demaskiert werden. In Ibsens
Drama
Nora
lasse sich dies an der Hauptfigur, wie auch anderen Figuren, zeigen.
So zeige Nora in ihrem Verhalten gegenüber Christine Lindes
leidvoller Vergangenheit "Unempfindlichkeit" und und gegenüber dem
Schicksal anderer Menschen wie Krogstad und seinen Kindern
"Gleichgültigkeit" und "Kälte". Ebenso sei ihr Verhältnis zu Rank
"nicht ganz sauber", da sie sich dadurch von Krogstad freikaufen
wollen, "indem sie einen Teil von sich an Rank verkauft." (Haugan
1977, zit. n.:
Keel 1990, S.66)
Dazu zeige sich Nora keineswegs in allen Phasen als naives und
unreifes Kind. Denn:
"Obwohl Nora als ein unentwickeltes und vernachlässigtes Kind
dargestellt wird, ist sie in ihrem Verhältnis zu ihrem Gatten
durchaus erfahren. Ihre Kenntnis seines Wesens und seiner Interessen
nützt sie aus, um das zu erreichen, was sie wünscht, seien es
Makronen, sei es Geld oder Einfluss auf die Anstellungen in der
Bank. Sie belügt Helmer, und sie hat einen merkwürdigen Genuss
daran, ihn hinters Licht zu führen, um sich so über seine Verbote
hinwegzusetzen." (Haugan
1977, zit. n.:
Keel 1990, S.66)
Für Jørgen Haugan steht dabei fest, dass Nora sich ihrer verführenden
Wirkung als weibliches Wesen auf Helmer wohlbewusst ist und in
diesem Bewusstsein handelt. Dies wird besonders deutlich, als sie
von Christine Linde bei ihrem ersten Gespräch (I, 3) befragt, ob sie
Helmer niemals reinen Wein einschenken wolle, geradezu abgeklärt zu
verstehen gibt, dies erst in ferner Zukunft in Frage komme, wenn ihre äußerliche
Attraktivität nicht mehr hinreichen werde, Helmer an sich zu binden. "Dann", so sagt sie unumwunden, "könnte es
vorteilhaft sein, etwas in der Hinterhand zu haben." (S.20) Mit
diesem Kalkül wird Noras idealistische Hoffnung auf das "Wunderbare"
demaskiert.
Die Wandlung Noras und ihr Entschluss, Helmer und die Kinder zu
verlassen, hinterlässt bei Jørgen Haugan einen ambivalenten
Eindruck:
"In der Enttäuschung erwacht Nora zum Erlebnis ihres eigenen Ich
[...]. Es ist diese Ich-Kraft, die sie aus dem Puppenhaus hinaus
treibt, es ist aber eine rat- und richtungslose Leidenschaft, ein
Hals über Kopf gefasster Entschluss. Eine tief desillusionierte Frau
geht, um ohne Geld und Ausbildung einen Platz in der Gesellschaft zu
finden. [...] Nora kennt die ökonomische Ordnung der Gesellschaft
nicht, aber sie will sich damit vertraut machen. Es ist also kein
großer Optimismus an Noras Ausmarsch geknüpft; es verhält sich eher
so, dass Ibsens Sympathie für Nora ihn veranlasst, sie vor dem
Zusammenbruch zu verschonen." (Haugan 1977, zit. n.:
Keel 1990, S.67)
(Die Textangaben zum Text von Henrik Ibsen beziehen sich auf die
Reclam-Ausgabe in der Übersetzung von Richard Linders, die von Aldo
Keel vollständig revidiert worden ist. Stuttgart: Philipp Reclam
1951, 1998)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
04.03.2024