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Lyrische Texte interpretieren (Schulische Schreibform)
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Grundbegriffe zur Gedichtinterpretation
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Leitfragen und Aufgaben
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Sonett
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Überblick
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Grundtypen
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Textauswahl
Johann Wolfgang von Goethe
(1749-1832) setzt sich in seinem Gedicht mit der Kunstform des ▪
Sonetts
auseinander, das von den Romantikern (▪
Romantik (1798-1835), insbesondere von »August Wilhelm Schlegel
(1767-1845) zur idealen lyrischen Form dadurch stilisiert wurde,
dass er die formale Gliederung des Sonetts in Quartette und Terzette
dialektisch ausdeutete. (vgl.
Borgstedt 2007a, S.448).
Das Sonett galt mit seiner strengen
Form allerdings nicht erst seitdem "als Beispiel für
traditionsverpflichteten Kunstanspruch", sondern stand auch für eine
Künstlichkeit, die "als zu enges Korsett poetisch gewordener
Eingebung" empfunden wurde.
Goethe, der die beiden Brüder Schlegel,
»August
Wilhelm (1767-1845) und seinen Bruder »Friedrich
(1772-1829) persönlich kannte, schätzte vor allem August
Wilhelm, der auch zeitweise an
Schillers Zeitschrift "Horen"
mitarbeitete. So besuchte er schon im Jahre Juli 1796 Ehepaar August
Wilhelm und ▪
Caroline
Schlegel (1763-1809) in Jena und empfing beide ein paar Monate
später im Dezember in Weimar. Ein reger Briefwechsel zwischen Goethe
und ▪ August
Wilhelm Schlegel zeigt, dass Goethe über Jahre hinweg einen regen
Gedankenaustausch mit dem fast 20 Jahre jüngeren Professor für
Philologie an der Universität Jena pflegte, ▪
bis ihr Verhältnis
deutlich am Ende deutlich abkühlte.
Am 23.3. 1800
schickte ▪
August Wilhelm Schlegel seine »"Gedichte" an Goethe. Unter
den 91 Gedichten des Bandes waren auch »62 Sonette.
Zu der Sonett-Sammlung gehört auch das Sonett "Goethe",
das Schlegel Goethe widmete. Wenige Tage
später war Schlegel bei Goethe in Weimar zu Gast und es kann
angenommen werden, dass sie sich auch über das Sonett unterhielten,
über das sie sich in der Folge auch brieflich ausgetauscht haben.
Wahrscheinlich hat Goethe auch dieser Diskurs dazu motiviert, seine
anfänglich sehr reservierte Haltung gegen die ▪ "Sonettenwut"
und die
romantische Überhöhung dieser lyrischen Form zu überwinden.
Goethe verfasste, womöglich im Rahmen seines Diskurses mit August
Wilhelm Schlegel über das Sonett als Kunstform, aber wohl auch um
seine eigene poetische Position dazu in dieser Form selbst
ästhetisch zu Papier zu bringen, zunächst das Gedicht "Das
Sonett", indem er kritische Töne zu der lyrischen Form und ihrer
Überhöhung durch die Romantiker erkennen lässt-
Aber schon bald danach scheint er seine Position überdacht zu
haben und kann der strengen Form nun doch etwas abgewinnen. Mit
seinem
"Natur
und Kunst, sie scheinen sich zu fliehen"
gestaltet
er in einer Art Gegengedicht zu seinem "Sonett"
bringt er diese neue Position zum Ausdruck. Dass er seine skeptische
Haltung aufgegeben hat, wird auch daran deutlich, dass er nun auch
eine Reihe eigener Sonette geschrieben hat, die ihr in einer
Sonettsammlung (»Sonette)
zusammenstellte. Darin werden aber immer noch kritische Züge
gegenüber dem Sonett sichtbar, auch wenn dies oft nur in Form der
selbstironischen Betrachtung des Schreibprozesses erfolgt. Zu diesen
Gedichten zählen u. a. ▪
Nemesis, ▪
[Ihr liebt, und schreibt Sonette!], ▪
[Ich zweifle doch am Ernst verschränkter Zeilen!].
Johann Wolfgang von
Goethe (1749-1832)
[Natur und Kunst, sie scheinen sich zu fliehen]
Natur und Kunst, sie scheinen sich zu fliehen
Und haben sich, eh' man es denkt, gefunden;
Der Widerwille ist auch mir verschwunden,
Und beide scheinen gleich mich anzuziehen.
Es gilt wohl nur ein
redliches Bemühen!
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Und wenn wir erst, in abgemessnen Stunden,
Mit Geist und Fleiß uns an die Kunst gebunden,
Mag frei Natur im Herzen wieder glühen.
So ist's mit aller
Bildung auch beschaffen.
Vergebens werden ungebundne Geister
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Nach der Vollendung reiner Höhe streben.
Wer Großes will, muss
sich zusammenraffen.
In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister,
Und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben.
(aus: Johann Wolfgang von Goethe, Was wir bringen.
Vorspiel bei der Eröffnung des neuen Schauspielhauses zu Lauchstädt, in:
Sämtliche Werke. Jubiläums-Ausgabe in 40 Bänden, hg. v. Eduard der Hellen,
Stuttgart/ Berlin: Cotta o. J., Bd. 9, S.235)