|
Im Zusammenhang mit der abnehmenden Bedeutung der Religion und der
Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Schicht hat Ingelhart (1977,
1985, 1990) ein neues "value cleavage" ausgemacht, das eine
Konfliktlinie zwischen Materialismus und Postmaterialismus begründet.
Das neue Cleavage führt auch dazu, dass die Beziehung zwischen
Wahlpräferenzen und den sozialen Gruppierungen, aus denen die
Wählerinnen und Wähler stammen, nicht mehr so eng sind. Man hat sogar
nachweisen können, dass das "value cleavage" zwischen 1972 und 1990 mehr
und mehr zur wichtigsten Variablen der Wahlentscheidung in verschiedenen
Ländern geworden ist. (Knutsen/Scarbrough
1995, S.519, vgl.
Kriesi 1998,
S.166)
Kriesi (1998.
S.168) geht davon aus, dass die veränderten soziökonomischen Bedingungen
der Klassen- bzw. Schichtzugehörigkeit neue soziale Spannungslinien hat
entstehen lassen, und zwar zwei: nämlich eine neue sozioökonomische und
eine neue wertbezogene Konfliktlinie (new class divisions and new values).
Die Entstehung einer neuen Mittelklasse in der Prosperitätsphase nach
dem 2. Weltkrieg in den Staaten Westeuropas
Die in der europäischen Geschichte außergewöhnliche Prosperitätsphase
der Nachkriegszeit endete "mit zwei tiefen Umbrüchen [...] in den späten
1960er- und frühen 1970er-Jahren: mit einem Mentalitätsbruch, dem Ende
des Zukunftsoptimismus und der Planungseuphorie, und mit dem ersten
Ölschock 1973, dem Symbol für den Beginn einer lang anhaltenden Periode
wirtschaftlicher Schwierigkeiten und einer neuen politischen Ära" (Kaelble
2011, S.82). Mit den 1970er-Jahren begann, darin sind sich die
Historiker weitgehend einig, "eine neue Epoche der europäischen
Geschichte." (ebd.
S.227) Das enorme Wirtschaftswachstum dieser Jahre mit seiner
hohen Nachfrage nach Arbeitskräften führte u. a. zu einer
außergewöhnlichen Steigerung der Einkommen und Löhne setzte überall in
Europa die "Massenkonsumgesellschaft" (ebd.
S.88) durch, die das, was die Menschen nach dem Krieg erleiden und vor
allem wie sie das Leid miteinander teilten, radikal veränderte. Auf der
Basis der neuartigen Wohlstandserfahrung entwickelten sich neue soziale
Konfliktlinien, "Verteilungs- und Wertekonflikte" (ebd.),
die neue Herausforderungen an das politisch-soziale und
gesellschaftliche System mit sich brachten. Vor allem der Konsum, an dem
eine immer größere Zahl von Menschen teilnehmen konnten - Autos,
Fernsehgeräte, Make-up bei Frauen oder sogar die Auslandsreise wurden
für viele erschwinglich - ebnete die althergebrachten Klassen- bzw.
Milieuunterschiede im Bewusstsein vieler Menschen ein. De facto
wurde die Einkommens- und Vermögensungleichheit im Allgemeinen
gemildert. (ebd.,
S.94) Zugleich aber kam es in dieser Zeit auch zu einer neuen Dimension
von sozialer Ungleichheit, nämlich die zwischen den neuen Zuwanderern
aus Südeuropa (Portugiesen, Spanier, Süditaliener, Jugoslawen und
Griechen), die zu Hunderttausenden als "Gastarbeiter" auch nach
Deutschland kamen. Zwischen 1968 und 1973 wurden mehr als 1,5 Millionen
ausländische Arbeitskräfte nach Deutschland geholt und unter den neu
Angeworbenen waren die Türken mit insgesamt 600.000 Arbeitskräften im
Jahr 1973 die größte Gruppe. (vgl.
Herbert 2014,
S.889)
Insgesamt machte sich in Deutschland und Westeuropa ein Zukunftsoptimismus breit, der sich auch im
Wandel gesellschaftlicher und politischer Werte niedergeschlagen hat. In
der familiären Erziehung dominierten nicht mehr die alten Werte
(Gehorsam, Selbstlosigkeit, Sparsamkeit, Geduld etc.), sondern "neue"
Werte wie Ehrlichkeit, Toleranz und Verantwortungsbereitschaft
Frauenerwerbsarbeit, Scheidungen und sogar eheliche Seitensprüngen (von
Männern?) waren ebenfalls nicht mehr so verpönt wie früher. Und am
Arbeitsplatz wollte man nicht mehr nur einfach "malochen", sondern man
erwartete zunehmend neben einer guten Bezahlung auch Mitbestimmung am
Arbeitsplatz. (vgl. Kaelble
2011, S.99)
Die Prosperitäts- und Massenkonsumgesellschaft hatte dazu immer weniger
für die Mitgliedschaft in einer der christlichen Kirchen übrig, der
regelmäßige Gottesdienstbesuch nahm ebenso ab wie die Beteiligung an der
Festtagsreligiosität. (ebd.,
S.94, 248)
In den siebziger Jahren wendete sich mit dem Auslaufen der Prosperität
das Blatt allmählich. Der Ölpreisschock der
»ersten Ölkrise 1973, der die Ölpreise aufgrund der Kartellpolitik
der »OPEC,
der Organisation der Erdöl exportierenden Lände, binnen kürzester Zeit
in bisher unvorstellbare Höhen trieb, machte schnell klar, dass die
Ölquellen weder unbegrenzt und nach dem Preisdiktat der Industrieländer
weitersprudeln würden. Der erstmalige Einsatz des Öls als politische
Waffe der OPEC während des »Kriegs
zwischen Ägypten und Syrien gegen Israel 1973 (Jom-Kippur-Krieg)
gegen die westlichen Staaten, die Israel unterstützen, zeugte von dem
wachsenden Einfluss der Öl produzierenden Länder, die sich damit
endgültig aus ihrer postkolonialen Abhängigkeit vom Westen befreiten,
und der Abhängigkeit der auf den Ölimport angewiesenen Industriestaaten.
Was aber bewirkte, dass die »Ölpreiskrise
vom Herbst 1973 so tiefgreifende Schockwirkung auf die Bürger der
westlichen Industriestaaten hatte, war, dass jedermann buchstäblich z.
B. mit mehrmaligen »Sonntags-Autofahrverboten
am eigenen Lenkrad vor Augen geführt wurde, auf welch wackeligem
Fundament der eigene Wohlstand gegründet war. (vgl.
Herbert 2014,
S.893f.)
Zugleich kam es aber im Zusammenhang mit Ölpreisschock und der Preisgabe
des »Bretton-Woods-Abkommens
von 1944 im Jahr 1973 zu fünf verschiedenen wirtschaftlichen
Entwicklungen, die eine neue Wirtschaftsepoche einläuteten: eine
deutliche "Verlangsamung des »Wirtschaftswachstums, der neue starke
Einfluss des »Monetarismus in der Geld- und Wirtschaftspolitik, die
»Deregulierung und Privatisierung im bislang öffentlichen Sektor und der
Übergang von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft." (Kaelble
2011,
S.179) Das Ende von Bretton Woods führte die kapitalistischen
Wirtschaften "weg von der staatlichen Steuerung und hin zu größerer
Autonomie des Marktgeschehens." Fortan galt in Abkehr von der »keynesianischen
Lenkung der Wirtschaft durch den Staat das monetaristische Dogma, wonach
wirtschaftliche Dynamik nicht über höhere Löhne auf der Nachfrageseite,
sondern durch bessere Bedingungen für die Unternehmen und deren
Investitionen erzeugt werden müsse. (vgl.
Herbert 2014,
S.893)
Dazu wurde die neue gesellschaftliche Epoche in der Bundesrepublik
Deutschland auch durch die »neuen
sozialen Bewegungen (»neue
Frauen-, »Schwulen-
und Lesbenbewegung, »Umweltbewegung
und Anti-Atomkraft-Bewegung, »neue
Friedensbewegung, »Bürgerinitiativbewegung,
»Dritte-Welt-
/ Eine-Welt-Initiativen und - Solidaritätsgruppen, antiimperialistische
Bewegung und Globalisierungskritiker, »Behindertenbewegung
sowie »weitere
Teilbewegungen verdeutlicht. Ein weiteres Signal für die neue Epoche
ergab sich "durch das Ende der optimistischen Zukunftserwartungen
unbegrenzten Wachstums und Wohlstands angesichts der Energieknappheit,
der Umweltschäden, der Unwirtlichkeit der neuen Städten und der neuen
Epidemien". Vor allem im westlichen Europa "(entstand) gegen die
vereinheitlichende Planung von Stadt, sozialer Sicherung, Bildung und
Lebensläufen von oben (...) eine neue Wertschätzung der Vielfalt
der Lebensoptionen" (ebd.,
S.225).
Im Rückblick auf die Jahre 1973 bis 1989 gehen die Meinungen der
Historiker über deren Bewertung weit auseinander (vgl.
ebd., S.227).
Einmal mehr wird diese zu einer Frage der Perspektive wie bei dem
bekannten Beispiel, ob ein Glas, das bis zur Mitte gefüllt ist, als
halbleer oder halbvoll betrachtet werden kann und soll.
-
Die einen nämlich sahen in diesen Jahren vor
allem einen Niedergang und das Auslaufen der Prosperität,
das endgültige Ende der Vollbeschäftigung und den Beginn von
Massenarbeitslosigkeit, das Entstehen der "neuen" Armut,
zeigten auf den zusehends verlorenen Zukunftsoptimismus und
die Krise des Wohlfahrtsstaates und der Stadtplanung und
rückten den Terrorismus und den Ausbau der staatlichen
Überwachungssysteme in den Vordergrund. Zugleich sehen sie
in diesen Jahren die Kritik wachsen an Aufklärung und
Rationalität. Und auch der Blick über die eigenen nationalen
Grenzen brachte wenig Erbauliches: die Hoffnungen auf eine
dauerhafte Entspannung erfüllten sich nicht und in Europa
ging es in den "bleiernen Jahren" bei der weiteren
Integration nur sehr schleppend weiter.
-
Andere bewerten diese Jahre eher positiv.
Man kehrte zu einem normalen Wirtschaftswachstum zurück,
zeigte sich gegenüber der Umwelt deutlich sensibler, sparte
Energie ein, verbesserte die Lebensqualität in den Städten
und kümmerte sich mehr um die Gesundheit. Zugleich sorgte
der abnehmende Konformitätsdruck im Allgemeinen im Zuge der
Individualisierung für eine neue Heterogenität der
Lebensformen und für eine Erweiterung der Lebensoptionen.
Und in der Art, wie der demokratische Staat die
Herausforderungen des Terrorismus bewältigte, werden
insgesamt positiv gesehen. Auf internationaler Bühne sah man
neue Chancen für die Entspannung und für die weitere
europäische Integration entstehen und begrüßte das langsame
Scheitern des sowjetischen Modells. (vgl.
ebd.,
S.227).
Der Lipset/Rokkan
(1967) z
Parteien in einem
Parteiensystem
formieren.
Eine der von Lipset/Rokkan
(1967) als
Hauptcleavages bezeichneten Konfllikt- oder Spannungslinien
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
27.08.2016
|
|