Ausgangspunkte des gestaltenden Erschließens literarischer Texte sind
meistens so genannte
Leerstellen. Leerstellen sind nach
Michael
Titzmann (1977) Stellen in einem literarischen Text, die durch das
"Fehlen von etwas" auf sich aufmerksam machen.
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Der einzelne Leser ist bei
der Rezeption des Textes aufgefordert, diese Leerstellen auszufüllen. Auf
diese Weise gelingt es ihm, einem Text einen individuellen Sinn zu geben.
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Leerstellen erzeugen, wenn man so will, eine Kombinationsnotwendigkeit, die
bestimmte Textelemente aufeinander bezieht, deren Beziehung im Text zwar
irgendwie angelegt, aber in Art und Beziehung weder offenkundig noch im Text
ausformuliert sind.
Dabei gibt es verschiedene
Leerstellentypen,
wie z. B.
grammatische
Aussparungen,
metrische
Aussparungen,
Aussparungen
in der Handlungsdarstellung,
»unformulierte
Beziehungen« (Iser) und
gezielte
Verletzungen einer (literarischen) Norm. (→vgl. auch:
Leitfragen
zur Leerstelleninterpretation).
Aufgabe des Verfassers einer gestaltenden Interpretation ist es,
in textkompatibler Weise, d. h. mit einem nachvollziehbaren auf den
Inhalt, das Thema, Strukturen und sprachlich-stilistischer
Gestaltung einen kreativen Spielraum zu nutzen, den ihm die
Leerstellen des Textes anbieten.
Das wiederum bedeutet, dass die gestaltende Interpretation einem
plausiblen Textverständnis zwar nicht zuwiderlaufen darf, aber doch
auch unterschiedlichen Lesearten Raum geben kann, die damit als
"risikofreudige Interpretation" auch "Neuland" erschließen kann.
(vgl.
Richter 1996, S.533). Reine Fantasieprodukte, die zwar irgendwie auch
vom Text mit ausgelöst werden, aber es an dem nötigen Textbezug
fehlen lassen, erfüllen die Aufgabenstellung beim gestaltenden
Interpretieren nicht. Sie muss sich, das ist ein Muss,
stets vom Text her legitimieren.
Peter Bichsels Kurzgeschichten und Kurzprosa, darauf hat schon Marcel
Reich-Ranicki
(1964) in seiner Rezension hingewiesen, bietet dem Leser nicht eine
zusammenhängende und fortlaufende Darstellung, sondern lediglich
Anhaltspunkte und Hinweise: spärliche Beobachtungen, wenige Auskünfte,
knappe Bemerkungen.
Was die Sachverhalte
herbeigeführt, die Situationen ausgelöst, die Zustände bedingt hat –
wir wissen es nicht. Was sich zwischen den Vorgängen ereignet hat –
der Autor erwähnt es nicht. Was die Stimmungen hervorgerufen und die
Reaktionen verursacht hat – wird uns nicht gesagt. Bichsel deutet
etwas an, er führt es jedoch nie aus. Er steuert auf einen
bestimmten Vorfall zu, er nähert sich ihm – und weicht
wieder zurück.
So strotzen seine Geschichten von
Aussparungen, von Hohlräumen. Das Wichtigste verschweigt er.
Geheimnistuerei? Nein, Zurückhaltung, Diskretion, Scheu. Und eben
dieser Zurückhaltung hat die Imagination des Lesers manches Geschenk
zu verdanken. Denn sowenig Peter Bichsel uns mitzuteilen bereit ist,
soviel lässt er uns doch ahnen."
Auch andere Interpreten haben immer wieder betont, dass Bichsels "ganz
spezielle sprachliche Form, die ihn ihrer Verknappung lediglich andeutet und
mehr verschweigt als ausspricht, gerade dadurch die Leser zu intensiver
Mitarbeit bei der Lektüre ermutigt. Die wenigen Anhaltspunkte müssen zu
einem Ganzen vervollständigt werden. Während dies einerseits den
»Möglichkeitssinn« der Leser schärft , besteht natürlich auch die Gefahr der
Überinterpretation." (Jucker
2004, S.269)
H: "Hallo, Mama. Entschuldige, dass ich nach
21.30 Uhr noch anrufe, aber ich muss dir unbedingt etwas sagen! Ich
bin gerade von der Chorprobe nach Hause gekommen, aber Paul war
nicht da. Stattdessen habe ich auf dem Küchentisch ein Blatt Papier
gefunden. Auf das hat Paul geschrieben: ‘Mir ist es hier zu kalt.
Ich gehe nach Südamerika. Paul’. Auch ein neuer Füller und ein Blatt
mit der Adresse seiner Eltern lag daneben. Ich weiß gar nicht mehr,
was ich mit Paul anfangen soll! Vorsichtshalber habe ich gleich
seine Hemden im Schrank gezählt. Aber die waren natürlich alle noch
da. Er wollte mich wohl nur erschrecken, bevor er wieder in ein
Lokal geht. Da sein Stammlokal der ‘Löwen’ heute geschlossen hat,
wird er wohl in die Kneipe gegenüber gegangen sein."
M: "Hilde, das ist ja furchtbar! Warum
erzählst du mir das erst jetzt? Geht das schon länger so mit ihm?
Ich war damals bei eurer Hochzeit so glücklich, dass du so einen
liebevollen Mann bekommen hast, der eine großartige Karriere vor
sich hatte."
H: "Er ist ja sehr gebildet und hätte alle
beruflichen Aufstiegschancen gehabt. Sogar Chefdolmetscher hätte er
werden können, da er so gut Englisch, Französisch und Spanisch
spricht. Aber seit seiner Kündigung hat er sich so verändert! Er
sitzt die ganze Zeit in der Küche, liest Zeitungen und raucht
ständig wie ein Schlot, obwohl ich ihm das verboten habe. Er ist
überhaupt so unordentlich! Ständig muss ich hinter ihm her räumen
und ihn kontrollieren. Abends ist er oft weg. Er geht allein ins
Kino und betrinkt sich immer öfter im ‘Löwen’. Ich bin schon froh,
dass er wenigstens noch auf die Kinder aufpasst, wenn ich z.B.
Chorprobe habe. Ich muss mich langsam richtig schämen für ihn! Wenn
andere mich nach ihm fragen, muss ich irgendwelche Ausreden erfinden
oder sogar lügen. Deshalb habe ich ein schlechtes Gewissen, da man
doch immer die Wahrheit sagen muss!"
M: "Warst du mal beim Nervenarzt mit ihm?
Vielleicht ist mit Paul etwas nicht in Ordnung."
H: "Der schickt Paul doch nur in die
Nervenheilanstalt. Und was habe ich dann davon? Ich bin ja so froh,
dass wir nicht zur Miete wohnen und ihr uns finanziell so großzügig
unterstützt, sonst wäre ich total hilflos! Ich habe schon bei der
letzten Beichte mit unserem Pfarrer gesprochen. Aber er hat mir nur
gesagt, dass ich das als christliche Frau eben ertragen muss, da nur
der Tod uns scheiden kann."
M: "Hilde, du wirst doch nicht an Scheidung
denken! Wie stehst du denn dann da vor den Leuten! Außerdem geht das
doch ohne seine Einwilligung gar nicht. Du musst auch an die Kinder
denken! Hast du mit Paul mal über seine Probleme und eure Beziehung
gesprochen?"
H: "Was soll ich denn mit ihm reden? Wie oft
habe ich ihm gesagt, dass er sich eine Arbeit suchen und sich
bewerben muss! Er schaut mich dann aber nur traurig an und sagt
nichts. Höchstens, dass er nicht mehr leben will. Daher habe ich es
in letzter Zeit aufgegeben, überhaupt noch mit ihm zu reden. Er hat
ja auch keine Freunde, mit denen er reden kann und die ihm
weiterhelfen könnten. Auf mich hört er ja gar nicht mehr!"
M: "Hilde, vielleicht musst du einfach mehr
auf Paul eingehen! Die Kündigung war sicher ein großer Schock für
ihn, besonders weil er doch eigentlich so ehrgeizig ist. Ich habe
fast den Eindruck, dass du ihn durch deine ständigen Anforderungen,
deine übertriebene Kontroll- und Ordnungssucht völlig
überforderst. Da ist es doch kein Wunder, dass er allen Problemen
ausweicht, zu nichts mehr fähig ist und sich völlig wertlos fühlt.
Du musst ihn gerade jetzt unterstützen, ihm zeigen, dass du ihn
liebst und ihn wertschätzt."
H: "Mama, woher habe ich denn das alles? Du
hast mich doch so erzogen!!"
M: "Hilde, du hast ja recht. Vielleicht habe
ich dich ein bisschen zu streng und nicht liebevoll genug erzogen.
Aber damals war ja die Nazizeit und dann noch der Krieg. Heute ist
das doch alles anders! Dein Vater ist auch nicht immer besonders
ordentlich. Das ist bei Männern eben so. Du solltest einfach viel
liebevoller mit Paul umgehen. Bei den Kindern kannst du das doch
auch! Er ist doch schließlich ein so herzensguter Mensch! Ich habe
mit Vater auch so manche Krise durchlebt. Aber wir haben immer
zusammengehalten, auch in den schweren Kriegszeiten, wo wir fast
nichts zu essen hatten. Vater hat doch viele Beziehungen zu den
Ministerien in Bonn. Ich werde ihn gleich bitten, sich darum zu
kümmern. Er kann Paul sicher helfen, ganz schnell wieder eine Stelle
zu bekommen. Wir unterstützen euch doch in jeder Hinsicht, so dass
ihr nicht am Hungertuch nagen müsst! Du musst aber mit Paul reden,
ihn öfter in den Arm nehmen, ihm sagen, dass du ihn wirklich liebst,
immer zu ihm hältst und ihm helfen wirst. Du musst ihn jetzt
unbedingt aufbauen, damit er beim Vorstellungsgespräch einen guten
Eindruck hinterlässt und sie ihn auch nehmen."
H: "Mama, du hast ja recht. Ich wäre ja so
glücklich, wenn Paul wieder eine Arbeit hätte! Dann würde er es
sicher schaffen, seine Selbstmordgedanken und sein apathisches
Dasitzen zu überwinden. Ich glaube, ich habe Paul wirklich in der
letzten Zeit gar nicht mehr beachtet. Ich schäme mich, dass ich in
letzter Zeit so gefühllos zu Paul war. Aber ich habe selbst unter
seinem Zustand so sehr gelitten! Das kannst du dir gar nicht
vorstellen! Ich konnte ja mit niemandem darüber reden."
M: "Hilde, ich bin ja so froh, dass du mir
jetzt alles erzählt hast! Hoffentlich kann Vater ihm in ein paar
Tagen eine neue Stelle vermitteln. Dolmetscher werden doch überall
dringend gebraucht!"
H: "Mama, sobald Paul zurückkommt, werde ich
ihn in den Arm nehmen und mit ihm reden. Ich bin dir ja so dankbar
für alles, was du für uns tust! Tschüss, Mama!"
M: "Tschüss, mein Kind! Ganz liebe Grüße auch
an die Kinder. Ich bin sicher, dass Vater für Paul das Richtige
findet."
(Autor: Gregor Schröder,
http://www.gregorschroeder.de/weiterfuehrender-schreibauftrag.html#1peterbichsel,
8.3.2020)