Zunächst einmal
soll man die literarische Vorlage nicht einfach als Sprungbrett
nutzen, um Ideen zu folgen, die nur wenig mit dem zu tun haben,
was in der Vorlage gestaltet worden ist.
Und damit ist
gemeint, dass diese Vorlage ja einen bestimmten Inhalt hat, die
Ereignisse und Figuren und ihre Beziehung zueinander in einer
besonderen Art und Weise gestaltet sowie die Atmosphäre, die von
dem Raum ausgeht, in dem das Ganze spielt, eine bestimmte
Wirkung hat. Genauso ist das auch mit der Sprache. Die Art und
Weise, wie sich z. B. Figuren im Text ausdrücken, oder der
Sprachstil, mit dem ein Erzähler die Geschichte darbietet, sind
Merkmale, zu denen im Allgemeinen auch das "passen" muss, was
man selbst bei seiner Gestaltung schreibt.
Und die Ideen,
die man zur Textvorlage gestaltet, dürfen keine reinen
Fantasieprodukte sein, die einfach aus der Luft gegriffen,
künstlich herbeigeholt und so konstruiert wirken, dass andere
ihr Verständnis der literarischen Vorlage darin überhaupt nicht
mehr unterbringen können. Wenn man so will, gibt es also eine,
wenn auch nicht klar zu definierende Grenze, zwischen dem, was
zum Ausgangstext passt oder nicht.
Klar, diese
Grenze ist nicht scharf gezogen. Sie lässt sich auch nicht in
jedem einzelnen Fall mit der Textvorlage und ihren Strukturen
wirklich überzeugend begründen. Nicht umsonst spricht man ja
davon, dass literarische Texte mehrdeutig sind, jede/r Leserin*
sich also letzten Endes seinen eigenen Reim auf sie macht.
In einer Gruppe
von Menschen, die sich professionell mit literarischen Texten
befassen, liegt diese Grenze sicherlich woanders, wenngleich
nicht unbedingt schärfer gezogen, als bei Schülerinnen*, die
unter anderem ihre eigenen Erfahrungen, Vorstellungen, Wünsche
und Gefühle mit einfließen lassen, wenn sie kreativ schreiben.
Aber vor der Tendenz zu ▪
Happy Ends und
Katastrophen muss gewarnt werden, weil sie allzu oft von
medialen Vorbildern aus Video-, Film und Fernsehformaten (z. B.
Soaps) geprägt sind, die nicht unbedingt zu den
"anspruchsvollen" literarischen Texten passen, die die Vorlage
für die gestaltende Interpretation darstellen.
Dazu ein paar
krasse Beispiele:
-
Wenn z. B.
in einer Kurzgeschichte eine problematische Beziehung
zwischen einem sich weitgehend fremd gewordenen Paar
dargestellt wird, "passt" eben einfach eine ▪
Weitererzählung nicht dazu, wenn die Beziehung mit dem
Arrangement eines romantischen Candlelihgt-Dinners
"gerettet" wird.
-
Bleibt der
Schluss einer derartigen Geschichte in der Vorlage offen,
bedeutet das nicht, dass sie bis zu einem ▪
Punkt, an dem alles zu Ende ist, weitererzählt werden
muss. Es unterstellt
nämlich, dass eine "gute" bzw. gut erzählte Geschichte, ein Ende
haben muss oder eben irgendwie "abgerundet" endet, ob mit Happy End oder einer finalen Tragödie.
Kein Wunder wird dann oft in die herbeikonstruierte Tragödie
(Schicksalsschläge, Unfälle, Gewalttaten) hineingeschrieben,
was die Fantasie bereithält.
-
Traumfantasien müssen oft herhalten, wenn man eigentlich
spürt, dass sich das, was man zu einer literarischen Vorlage
gestaltet, dem nicht recht fügt, was diese vorgibt. Der
Traum rechtfertigt dann alle inhaltlichen Gestaltungen, so
meint man, weil in Träumen ja schließlich alles möglich bzw.
erlaubt ist.
Fazit: Am
besten geht man bei seiner Gestaltung behutsam mit der
literarischen Vorlage um. Das bedeutet aber auch, dass man sich
die Mühe macht, ihn zu erschließen und sich ein Textverständnis
zu erarbeiten. Sich ohne das, z. B. gleich nach dem ersten Lesen
von einer Idee zum Text mitreißen zu lassen, ist meistens keine
gute Idee. Denn, was man auch immer dabei zu Papier bringt, es
soll schließlich davon zeugen, wie man die literarische Vorlage
verstanden hat.
Daher geht es beim ▪ gestaltenden Interpretieren
in der Schule auch immer darum, sich mit anderen, den
Mitschülerinnen* ebenso wie mit den Lehrkräften, über das
Verständnis der literarischen Vorlage zu verständigen. Anders
ist das natürlich, wenn, was aber eher selten ist, solche
Aufgaben in Klassenarbeiten und Klausuren gestellt werden.
Was kreativ
gestaltet wird, ist also nicht nur ein individueller, kreativer
Schöpfungsakt, der einen hinführt, wohin man halt will, sondern
eine Deutung der literarischen Vorlage als Gestaltungsaufgabe.
Ihre Lösung soll und kann sich begründen lassen und muss also
ermöglichen, dass ihre textbezogenen Voraussetzungen reflektiert
und kommuniziert werden.
Am besten kann
man das in einer Schreibgruppe tun (Kleingruppe, Plenum), indem
die kreativen Gestaltungen miteinander verglichen, auf ihre
Kompatibilität und Plausibilität überprüft werden. Das
garantiert am ehesten, entsprechende Erfahrungen und Kenntnisse
ihrer Teilnehmerinnen* vorausgesetzt, dass die Gestaltung zu der
literarischen Vorlage passt.
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
25.03.2021