Das immer wiederkehrende
Bestreben, einen Literaturkanon zu bilden, ist zunächst einmal rein
pragmatischer Natur.
Da niemand alles lesen kann und Menschen zugleich dazu
tendieren, ihr Lesehandeln sinnvoll zu gestalten, suchen sie nach
Orientierungshilfen, die ihnen eine Auswahl ermöglichen. So oder so ähnlich
stellt sich das Bedürfnis nach der Bildung eines Literaturkanons jedenfalls
aus Leserperspektive dar.
Darüber hinaus haben natürlich diejenigen, die
sich aus unterschiedlichen Anlässen und für verschiedene Ziele zu ihrer Zeit
zur Zusammenstellung eines Kanon berufen fühlten, ihre eigenen Ziele
verfolgt. Dessen präskriptive und normative Aufgaben werden in der im 19.
Jahrhundert besonders deutlichen Betonung der Nationalliteratur mit ihrem
Hang zur "nationalen Klassik" (Buck
1983, S. 363) besonders deutlich (vgl.
Paefgen 22006, S.60f.)
Es gibt verschiedene
Definitionen
zum Begriff des Kanons (Auswahl):
-
Metzler-Literatur-Lexikon (22002)
"Auswahl der für eine bestimmte Zeit jeweils als wesentl., normsetzend, zeitüberdauernd, d. h. »klassisch«
erachteten künstler. Werke, deren Kenntnis für eine gewisse Bildungsstufe
vorausgesetzt wird (z. B. in Lehrplänen)."
Metzler Literatur-Lexikon (21990, S.232)
-
Rainer Rosenberg (2000) (=
Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, 2000)
"Zusammenstellung als exemplarisch ausgezeichneter und daher für
besonders erinnerungswürdig gehaltener Texte; ein aus einem bestimmten
Gebiet als verbindlich geltendes Textcorpus"
(Rosenberg
"Kanon" (2000, S. 224).
-
Iso Camartin (1994)
"Klassiker sind Bücher der fernen und nahen Vergangenheit, deren
Geheimnisse noch nicht ausgeplaudert sind. Auch wenn die vereinigte
Zunft der Literaten dies schon versucht haben sollte. Es sind Bücher, zu
denen ein Leser im Verlauf seines Lebens zurückkehrt, weil etwas, das er
meistens selbst nur schlecht begreift, ihn wieder in sie hineinruft."
(Camartin
1994, S. 17)
-
Hermann Korte (2002)
"Als Kanon in diesem Sinne ist ein Korpus von Texten aufzufassen, an
dessen Überlieferung eine Gesellschaft oder Kultur interessiert ist."
(S. 9)
(Hermann Korte in Literarische Kanonbildung. Edition Text und Kritik:
2002 , S.9)
Die Diskussion um einen Literaturkanon ist unter diskurstheoretischem
Bezug Teil des Bildungsdiskurses in unserer Gesellschaft. Dabei zeigt sich
gerade in der Art und Weise, wie dieser Diskurs gestaltet ist, dass Diskurse
nicht aus sich selbst heraus entstehen oder sich regeln können.
So ist auch
der Bildungsdiskurs mit einem seiner Themen (Literaturkanon) ein Bestandteil
von Machtpraktiken, die auf diskursinternen Ausschließungsprozeduren beruhen
(was zählt dazu, was nicht?), auf internen Kontrollmechanismen
(kommentierenden Beiträgen) und Kontrollmechanismen, die z. B. mit
bestimmten Doktrinen den Zugang zum Diskurs regeln. Mit
»Michel Foucault (1926-1984) gesprochen, stellt das Zusammenspiel von
literarischen Institutionen, Verlagen, Kommentaren und Beiträgen sowie
bildungspolitischen Richtlinien usw., die zur Festschreibung bestimmter
Texte im Literaturkanon führen sollen, eine Machtstrategie dar, ein
Dispositiv, das im
Rahmen der Diskursanalyse zu erfassen ist. (vgl.
Köppe/Winko 2008, S.100)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
18.07.2024