Unsere Sängerin heißt
Josefine. Wer sie nicht gehört hat, kennt nicht die Macht des Gesanges. Es
gibt niemanden, den ihr Gesang nicht fortreißt, was umso höher zu bewerten
ist, als unser Geschlecht im ganzen Musik nicht liebt. Stiller Frieden ist
uns die liebste Musik; unser Leben ist schwer, wir können uns, auch wenn wir
einmal alle Tagessorgen abzuschütteln versucht haben, nicht mehr zu solchen,
unserem sonstigen Leben so fernen Dingen erheben, wie es die Musik ist. Doch
beklagen wir es nicht sehr; nicht einmal so weit kommen wir; eine gewisse
praktische Schlauheit, die wir freilich auch äußerst dringend brauchen,
halten wir für unsern größten Vorzug, und mit dem [53] Lächeln dieser
Schlauheit pflegen wir uns über alles hinwegzutrösten, auch wenn wir einmal
- was aber nicht geschieht - das Verlangen nach dem Glück haben sollten, das
von der Musik vielleicht ausgeht. Nur Josefine macht eine Ausnahme; sie
liebt die Musik und weiß sie auch zu vermitteln; sie ist die einzige; mit
ihrem Hingang wird die Musik - wer weiß wie lange - aus unserem Leben
verschwinden.
Ich habe oft darüber
nachgedacht, wie es sich mit dieser Musik eigentlich verhält. Wir sind doch
ganz unmusikalisch; wie kommt es, daß wir Josefinens Gesang verstehn oder,
da Josefine unser Verständnis leugnet, wenigstens zu verstehen glauben. Die
einfachste Antwort wäre, daß die Schönheit dieses Gesanges so groß ist, daß
auch der stumpfste Sinn ihr nicht widerstehen kann, aber diese Antwort ist
nicht befriedigend. Wenn es wirklich so wäre, müßte man vor diesem Gesang
zunächst und immer das Gefühl des Außerordentlichen haben, das Gefühl, aus
dieser Kehle erklinge etwas, was wir nie vorher gehört haben und das zu
hören wir auch gar nicht die Fähigkeit haben, etwas, was zu hören uns nur
diese eine [54] Josefine und niemand sonst befähigt. Gerade das trifft aber
meiner Meinung nach nicht zu, ich fühle es nicht und habe auch bei andern
nichts dergleichen bemerkt. Im vertrauten Kreise gestehen wir einander
offen, daß Josefinens Gesang als Gesang nichts Außerordentliches darstellt.
Ist es denn überhaupt Gesang?
Trotz unserer Unmusikalität haben wir Gesangsüberlieferungen; in den alten
Zeiten unseres Volkes gab es Gesang; Sagen erzählen davon und sogar Lieder
sind erhalten, die freilich niemand mehr singen kann. Eine Ahnung dessen,
was Gesang ist, haben wir also und dieser Ahnung nun entspricht Josefinens
Kunst eigentlich nicht. Ist es denn überhaupt Gesang? Ist es nicht
vielleicht doch nur ein Pfeifen? Und Pfeifen allerdings kennen wir alle, es
ist die eigentliche Kunstfertigkeit unseres Volkes, oder vielmehr gar keine
Fertigkeit, sondern eine charakteristische Lebensäußerung. Alle pfeifen wir,
aber freilich denkt niemand daran, das als Kunst auszugeben, wir pfeifen,
ohne darauf zu achten, ja, ohne es zu merken und es gibt sogar viele unter
uns, die gar nicht wissen, daß das Pfeifen zu unsern Eigentümlichkeiten
gehört. Wenn es also wahr [55] wäre, daß Josefine nicht singt, sondern nur
pfeift und vielleicht gar, wie es mir wenigstens scheint, über die Grenzen
des üblichen Pfeifens kaum hinauskommt – ja vielleicht reicht ihre Kraft für
dieses übliche Pfeifen nicht einmal ganz hin, während es ein gewöhnlicher
Erdarbeiter ohne Mühe den ganzen Tag über neben seiner Arbeit zustandebringt
– wenn das alles wahr wäre, dann wäre zwar Josefinens angebliche
Künstlerschaft widerlegt, aber es wäre dann erst recht das Rätsel ihrer
großen Wirkung zu lösen.
Es ist aber eben doch nicht
nur Pfeifen, was sie produziert. Stellt man sich recht weit von ihr hin und
horcht, oder noch besser, läßt man sich in dieser Hinsicht prüfen, singt
also Josefine etwa unter andern Stimmen und setzt man sich die Aufgabe, ihre
Stimme zu erkennen, dann wird man unweigerlich nichts anderes heraushören,
als ein gewöhnliches, höchstens durch Zartheit oder Schwäche ein wenig
auffallendes Pfeifen. Aber steht man vor ihr, ist es doch nicht nur ein
Pfeifen; es ist zum Verständnis ihrer Kunst notwendig, sie nicht nur zu
hören sondern auch zu sehn. Selbst wenn es nur unser tagtägliches Pfeifen
wäre, so besteht hier [56] doch schon zunächst die Sonderbarkeit, daß jemand
sich feierlich hinstellt, um nichts anderes als das Übliche zu tun. Eine Nuß
aufknacken ist wahrhaftig keine Kunst, deshalb wird es auch niemand wagen,
ein Publikum zusammenzurufen und vor ihm, um es zu unterhalten, Nüsse
knacken. Tut er es dennoch und gelingt seine Absicht, dann kann es sich eben
doch nicht nur um bloßes Nüsseknacken handeln. Oder es handelt sich um
Nüsseknacken, aber es stellt sich heraus, daß wir über diese Kunst
hinweggesehen haben, weil wir sie glatt beherrschten und daß uns dieser neue
Nußknacker erst ihr eigentliches Wesen zeigt, wobei es dann für die Wirkung
sogar nützlich sein könnte, wenn er etwas weniger tüchtig im Nüsseknacken
ist als die Mehrzahl von uns.
Vielleicht verhält es sich
ähnlich mit Josefinens Gesang; wir bewundern an ihr das, was wir an uns gar
nicht bewundern; übrigens stimmt sie in letzterer Hinsicht mit uns völlig
überein. Ich war einmal zugegen, als sie jemand, wie dies natürlich öfters
geschieht, auf das allgemeine Volkspfeifen aufmerksam machte und zwar nur
ganz bescheiden, aber für Josefine war es schon zu viel. Ein so [57]
freches, hochmütiges Lächeln, wie sie es damals aufsetzte, habe ich noch
nicht gesehn; sie, die äußerlich eigentlich vollendete Zartheit ist,
auffallend zart selbst in unserem an solchen Frauengestalten reichen Volk,
erschien damals geradezu gemein; sie mochte es übrigens in ihrer großen
Empfindlichkeit auch gleich selbst fühlen und faßte sich. Jedenfalls leugnet
sie also jeden Zusammenhang zwischen ihrer Kunst und dem Pfeifen. Für die,
welche gegenteiliger Meinung sind, hat sie nur Verachtung und wahrscheinlich
uneingestandenen Haß. Das ist nicht gewöhnliche Eitelkeit, denn diese
Opposition, zu der auch ich halb gehöre, bewundert sie gewiß nicht weniger
als es die Menge tut, aber Josefine will nicht nur bewundert, sondern genau
in der von ihr bestimmten Art bewundert sein, an Bewunderung allein liegt
ihr nichts. Und wenn man vor ihr sitzt, versteht man sie; Opposition treibt
man nur in der Ferne; wenn man vor ihr sitzt, weiß man: was sie hier pfeift,
ist kein Pfeifen.
Da Pfeifen zu unseren
gedankenlosen Gewohnheiten gehört, könnte man meinen, daß auch in Josefinens
Auditorium gepfiffen wird; es wird uns [58] wohl bei ihrer Kunst und wenn
uns wohl ist, pfeifen wir; aber ihr Auditorium pfeift nicht, es ist
mäuschenstill, so als wären wir des ersehnten Friedens teilhaftig geworden,
von dem uns zumindest unser eigenes Pfeifen abhält, schweigen wir. Ist es
ihr Gesang, der uns entzückt oder nicht vielmehr die feierliche Stille, von
der das schwache Stimmchen umgeben ist? Einmal geschah es, daß irgendein
törichtes kleines Ding während Josefinens Gesang in aller Unschuld auch zu
pfeifen anfing. Nun, es war ganz dasselbe, was wir auch von Josefine hörten;
dort vorne das trotz aller Routine immer noch schüchterne Pfeifen und hier
im Publikum das selbstvergessene kindliche Gepfeife; den Unterschied zu
bezeichnen, wäre unmöglich gewesen; aber doch zischten und pfiffen wir
gleich die Störerin nieder, trotzdem es gar nicht nötig gewesen wäre, denn
sie hätte sich gewiß auch sonst in Angst und Scham verkrochen, während
Josefine ihr Triumphpfeifen anstimmte und ganz außer sich war mit ihren
ausgespreizten Armen und dem gar nicht mehr höher dehnbaren Hals.
So ist sie übrigens immer,
jede Kleinigkeit, jeden Zufall, jede Widerspenstigkeit, ein Knacken im [59]
Parkett, ein Zähneknirschen, eine Beleuchtungsstörung hält sie für geeignet,
die Wirkung ihres Gesanges zu erhöhen; sie singt ja ihrer Meinung nach vor
tauben Ohren; an Begeisterung und Beifall fehlt es nicht, aber auf
wirkliches Verständnis, wie sie es meint, hat sie längst verzichten gelernt.
Da kommen ihr denn alle Störungen sehr gelegen; alles, was sich von außen
her der Reinheit ihres Gesanges entgegenstellt, in leichtem Kampf, ja ohne
Kampf, bloß durch die Gegenüberstellung besiegt wird, kann dazu beitragen,
die Menge zu erwecken, sie zwar nicht Verständnis, aber ahnungsvollen
Respekt zu lehren.
Wenn ihr aber nun das Kleine
so dient, wie erst das Große. Unser Leben ist sehr unruhig, jeder Tag bringt
Überraschungen, Beängstigungen, Hoffnungen und Schrecken, daß der Einzelne
unmöglich dies alles ertragen könnte, hätte er nicht jederzeit bei Tag und
Nacht den Rückhalt der Genossen; aber selbst so wird es oft recht schwer;
manchmal zittern selbst tausend Schultern unter der Last, die eigentlich nur
für einen bestimmt war. Dann hält Josefine ihre Zeit für gekommen. Schon
steht sie da, das zarte Wesen, besonders unterhalb [60] der Brust
beängstigend vibrierend, es ist, als hätte sie alle ihre Kraft im Gesang
versammelt, als sei allem an ihr, was nicht dem Gesange unmittelbar diene,
jede Kraft, fast jede Lebensmöglichkeit entzogen, als sei sie entblößt,
preisgegeben, nur dem Schutze guter Geister überantwortet, als könne sie,
während sie so, sich völlig entzogen, im Gesange wohnt, ein kalter Hauch im
Vorüberwehn töten. Aber gerade bei solchem Anblick pflegen wir angeblichen
Gegner uns zu sagen: „Sie kann nicht einmal pfeifen; so entsetzlich muß sie
sich anstrengen, um nicht Gesang – reden wir nicht von Gesang – aber um das
landesübliche Pfeifen einigermaßen sich abzuzwingen.“ So scheint es uns,
doch ist dies, wie erwähnt, ein zwar unvermeidlicher, aber flüchtiger,
schnell vorübergehender Eindruck. Schon tauchen auch wir in das Gefühl der
Menge, die warm, Leib an Leib, scheu atmend horcht.
Und um diese Menge unseres
fast immer in Bewegung befindlichen, wegen oft nicht sehr klarer Zwecke hin-
und herschießenden Volkes um sich zu versammeln, muß Josefine meist nichts
anderes tun, als mit zurückgelegtem Köpfchen, halboffenem [61] Mund, der
Höhe zugewandten Augen jene Stellung einzunehmen, die darauf hindeutet, daß
sie zu singen beabsichtigt. Sie kann dies tun, wo sie will, es muß kein
weithin sichtbarer Platz sein, irgendein verborgener, in zufälliger
Augenblickslaune gewählter Winkel ist ebensogut brauchbar. Die Nachricht,
daß sie singen will, verbreitet sich gleich, und bald zieht es in
Prozessionen hin. Nun, manchmal treten doch Hindernisse ein, Josefine singt
mit Vorliebe gerade in aufgeregten Zeiten, vielfache Sorgen und Nöte zwingen
uns dann zu vielerlei Wegen, man kann sich beim besten Willen nicht so
schnell versammeln, wie es Josefine wünscht, und sie steht dort diesmal in
ihrer großen Haltung vielleicht eine Zeit lang ohne genügende Hörerzahl –
dann freilich wird sie wütend, dann stampft sie mit den Füßen, flucht ganz
unmädchenhaft, ja sie beißt sogar. Aber selbst ein solches Verhalten schadet
ihrem Rufe nicht; statt ihre übergroßen Ansprüche ein wenig einzudämmen,
strengt man sich an, ihnen zu entsprechen; es werden Boten ausgeschickt, um
Hörer herbeizuholen; es wird vor ihr geheim gehalten, daß das geschieht; man
sieht dann auf den Wegen im Umkreis Posten [62] aufgestellt, die den
Herankommenden zuwinken, sie möchten sich beeilen; dies alles so lange, bis
dann schließlich doch eine leidliche Anzahl beisammen ist.
Was treibt das Volk dazu,
sich für Josefine so zu bemühen? Eine Frage, nicht leichter zu beantworten
als die nach Josefinens Gesang, mit der sie ja auch zusammenhängt. Man
könnte sie streichen und gänzlich mit der zweiten Frage vereinigen, wenn
sich etwa behaupten ließe, daß das Volk wegen des Gesanges Josefine
bedingungslos ergeben ist. Dies ist aber eben nicht der Fall; bedingungslose
Ergebenheit kennt unser Volk kaum; dieses Volk, das über alles die freilich
harmlose Schlauheit liebt, das kindliche Wispern, den freilich unschuldigen,
bloß die Lippen bewegenden Tratsch, ein solches Volk kann immerhin nicht
bedingungslos sich hingeben, das fühlt wohl auch Josefine, das ist es, was
sie bekämpft mit aller Anstrengung ihrer schwachen Kehle.
Nur darf man freilich bei
solchen allgemeinen Urteilen nicht zu weit gehn, das Volk ist Josefine doch
ergeben, nur nicht bedingungslos. Es wäre z. B. nicht fähig, über Josefine
zu lachen. Man [63] kann es sich eingestehn: an Josefine fordert manches zum
Lachen auf; und an und für sich ist uns das Lachen immer nah; trotz allem
Jammer unseres Lebens ist ein leises Lachen bei uns gewissermaßen immer zu
Hause; aber über Josefine lachen wir nicht. Manchmal habe ich den Eindruck,
das Volk fasse sein Verhältnis zu Josefine derart auf, daß sie, dieses
zerbrechliche, schonungsbedürftige, irgendwie ausgezeichnete, ihrer Meinung
nach durch Gesang ausgezeichnete Wesen ihm anvertraut sei und es müsse für
sie sorgen; der Grund dessen ist niemandem klar, nur die Tatsache scheint
festzustehn. Über das aber, was einem anvertraut ist, lacht man nicht;
darüber zu lachen, wäre Pflichtverletzung; es ist das Äußerste an
Boshaftigkeit, was die Boshaftesten unter uns Josefine zufügen, wenn sie
manchmal sagen: „Das Lachen vergeht uns, wenn wir Josefine sehn.“
So sorgt also das Volk für
Josefine in der Art eines Vaters, der sich eines Kindes annimmt, das sein
Händchen – man weiß nicht recht, ob bittend oder fordernd – nach ihm
ausstreckt. Man sollte meinen, unser Volk tauge nicht zur Erfüllung solcher
väterlicher Pflichten, aber in Wirklichkeit versieht [64] es sie, wenigstens
in diesem Falle, musterhaft; kein Einzelner könnte es, was in dieser
Hinsicht das Volk als Ganzes zu tun imstande ist. Freilich, der
Kraftunterschied zwischen dem Volk und dem Einzelnen ist so ungeheuer, es
genügt, daß es den Schützling in die Wärme seiner Nähe zieht, und er ist
beschützt genug. Zu Josefine wagt man allerdings von solchen Dingen nicht zu
reden. „Ich pfeife auf eueren Schutz“, sagt sie dann. „Ja, ja, du pfeifst“,
denken wir. Und außerdem ist es wahrhaftig keine Widerlegung, wenn sie
rebelliert, vielmehr ist das durchaus Kindesart und Kindesdankbarkeit, und
Art des Vaters ist es, sich nicht daran zu kehren.
Nun spricht aber doch noch
anderes mit herein, das schwerer aus diesem Verhältnis zwischen Volk und
Josefine zu erklären ist. Josefine ist nämlich der gegenteiligen Meinung,
sie glaubt, sie sei es, die das Volk beschütze. Aus schlimmer politischer
oder wirtschaftlicher Lage rettet uns angeblich ihr Gesang, nichts weniger
als das bringt er zuwege, und wenn er das Unglück nicht vertreibt, so gibt
er uns wenigstens die Kraft, es zu ertragen. Sie spricht es nicht so aus und
auch nicht anders, sie [65] spricht überhaupt wenig, sie ist schweigsam
unter den Plappermäulern, aber aus ihren Augen blitzt es, von ihrem
geschlossenen Mund – bei uns können nur wenige den Mund geschlossen halten,
sie kann es – ist es abzulesen. Bei jeder schlechten Nachricht – und an
manchen Tagen überrennen sie einander, falsche und halbrichtige darunter –
erhebt sie sich sofort, während es sie sonst müde zu Boden zieht, erhebt
sich und streckt den Hals und sucht den Überblick über ihre Herde wie der
Hirt vor dem Gewitter. Gewiß, auch Kinder stellen ähnliche Forderungen in
ihrer wilden, unbeherrschten Art, aber bei Josefine sind sie doch nicht so
unbegründet wie bei jenen. Freilich, sie rettet uns nicht und gibt uns keine
Kräfte, es ist leicht, sich als Retter dieses Volkes aufzuspielen, das
leidensgewohnt, sich nicht schonend, schnell in Entschlüssen, den Tod wohl
kennend, nur dem Anscheine nach ängstlich in der Atmosphäre von
Tollkühnheit, in der es ständig lebt, und überdies ebenso fruchtbar wie
wagemutig – es ist leicht, sage ich, sich nachträglich als Retter dieses
Volkes aufzuspielen, das sich noch immer irgendwie selbst gerettet hat, sei
es auch unter Opfern, über die der [66] Geschichtsforscher – im allgemeinen
vernachlässigen wir Geschichtsforschung gänzlich – vor Schrecken erstarrt.
Und doch ist es wahr, daß wir gerade in Notlagen noch besser als sonst auf
Josefinens Stimme horchen. Die Drohungen, die über uns stehen, machen uns
stiller, bescheidener, für Josefinens Befehlshaberei gefügiger; gern kommen
wir zusammen, gern drängen wir uns aneinander, besonders weil es bei einem
Anlaß geschieht, der ganz abseits liegt von der quälenden Hauptsache; es
ist, als tränken wir noch schnell – ja, Eile ist nötig, das vergißt Josefine
allzuoft – gemeinsam einen Becher des Friedens vor dem Kampf. Es ist nicht
so sehr eine Gesangsvorführung als vielmehr eine Volksversammlung, und zwar
eine Versammlung, bei der es bis auf das kleine Pfeifen vorne völlig still
ist; viel zu ernst ist die Stunde, als daß man sie verschwätzen wollte.
Ein solches Verhältnis könnte
nun freilich Josefine gar nicht befriedigen. Trotz all ihres nervösen
Mißbehagens, welches Josefine wegen ihrer niemals ganz geklärten Stellung
erfüllt, sieht sie doch, verblendet von ihrem Selbstbewußtsein, manches
nicht und kann ohne große Anstrengung dazu gebracht [67] werden, noch viel
mehr zu übersehen, ein Schwarm von Schmeichlern ist in diesem Sinne, also
eigentlich in einem allgemein nützlichen Sinne, immerfort tätig, – aber nur
nebenbei, unbeachtet, im Winkel einer Volksversammlung zu singen, dafür
würde sie, trotzdem es an sich gar nicht wenig wäre, ihren Gesang gewiß
nicht opfern.
Aber sie muß es auch nicht,
denn ihre Kunst bleibt nicht unbeachtet. Trotzdem wir im Grunde mit ganz
anderen Dingen beschäftigt sind und die Stille durchaus nicht nur dem
Gesange zuliebe herrscht und mancher gar nicht aufschaut, sondern das
Gesicht in den Pelz des Nachbars drückt und Josefine also dort oben sich
vergeblich abzumühen scheint, dringt doch – das ist nicht zu leugnen – etwas
von ihrem Pfeifen unweigerlich auch zu uns. Dieses Pfeifen, das sich erhebt,
wo allen anderen Schweigen auferlegt ist, kommt fast wie eine Botschaft des
Volkes zu dem einzelnen; das dünne Pfeifen Josefinens mitten in den schweren
Entscheidungen ist fast wie die armselige Existenz unseres Volkes mitten im
Tumult der feindlichen Welt. Josefine behauptet sich, dieses Nichts an
Stimme, dieses Nichts an Leistung behauptet sich [68] und schafft sich den
Weg zu uns, es tut wohl, daran zu denken. Einen wirklichen Gesangskünstler,
wenn einer einmal sich unter uns finden sollte, würden wir in solcher Zeit
gewiß nicht ertragen und die Unsinnigkeit einer solchen Vorführung einmütig
abweisen. Möge Josefine beschützt werden vor der Erkenntnis, daß die
Tatsache, daß wir ihr zuhören, ein Beweis gegen ihren Gesang ist. Eine
Ahnung dessen hat sie wohl, warum würde sie sonst so leidenschaftlich
leugnen, daß wir ihr zuhören, aber immer wieder singt sie, pfeift sie sich
über diese Ahnung hinweg.
Aber es gäbe auch sonst noch
immer einen Trost für sie: wir hören ihr doch auch gewissermaßen wirklich
zu, wahrscheinlich ähnlich, wie man einem Gesangskünstler zuhört; sie
erreicht Wirkungen, die ein Gesangskünstler vergeblich bei uns anstreben
würde und die nur gerade ihren unzureichenden Mitteln verliehen sind. Dies
hängt wohl hauptsächlich mit unserer Lebensweise zusammen.
In unserem Volke kennt man
keine Jugend, kaum eine winzige Kinderzeit. Es treten zwar regelmäßig
Forderungen auf, man möge den Kindern [69] eine besondere Freiheit, eine
besondere Schonung gewährleisten, ihr Recht auf ein wenig Sorglosigkeit, ein
wenig sinnloses Sichherumtummeln, auf ein wenig Spiel, dieses Recht möge man
anerkennen und ihm zur Erfüllung verhelfen; solche Forderungen treten auf
und fast jedermann billigt sie, es gibt nichts, was mehr zu billigen wäre,
aber es gibt auch nichts, was in der Wirklichkeit unseres Lebens weniger
zugestanden werden könnte, man billigt die Forderungen, man macht Versuche
in ihrem Sinn, aber bald ist wieder alles beim Alten. Unser Leben ist eben
derart, daß ein Kind, sobald es nur ein wenig läuft und die Umwelt ein wenig
unterscheiden kann, ebenso für sich sorgen muß wie ein Erwachsener; die
Gebiete, auf denen wir aus wirtschaftlichen Rücksichten zerstreut leben
müssen, sind zu groß, unserer Feinde sind zu viele, die uns überall
bereiteten Gefahren zu unberechenbar – wir können die Kinder vom
Existenzkampfe nicht fernhalten, täten wir es, es wäre ihr vorzeitiges Ende.
Zu diesen traurigen Gründen kommt freilich auch ein erhebender: die
Fruchtbarkeit unseres Stammes. Eine Generation – und jede ist zahlreich –
drängt [70] die andere, die Kinder haben nicht Zeit, Kinder zu sein. Mögen
bei anderen Völkern die Kinder sorgfältig gepflegt werden, mögen dort
Schulen für die Kleinen errichtet sein, mögen dort aus diesen Schulen
täglich die Kinder strömen, die Zukunft des Volkes, so sind es doch immer
lange Zeit Tag für Tag die gleichen Kinder, die dort hervorkommen. Wir haben
keine Schulen, aber aus unserem Volke strömen in allerkürzesten
Zwischenräumen die unübersehbaren Scharen unserer Kinder, fröhlich zischend
oder piepsend, solange sie noch nicht pfeifen können, sich wälzend oder
kraft des Druckes weiterrollend, solange sie noch nicht laufen können,
täppisch durch ihre Masse alles mit sich fortreißend, solange sie noch nicht
sehen können, unsere Kinder! Und nicht wie in jenen Schulen die gleichen
Kinder, nein, immer, immer wieder neue, ohne Ende, ohne Unterbrechung, kaum
erscheint ein Kind, ist es nicht mehr Kind, aber schon drängen hinter ihm
die neuen Kindergesichter ununterscheidbar in ihrer Menge und Eile, rosig
vor Glück. Freilich, wie schön dies auch sein mag und wie sehr uns andere
darum auch mit Recht beneiden mögen, eine wirkliche [71] Kinderzeit können
wir eben unseren Kindern nicht geben. Und das hat seine Folgewirkungen. Eine
gewisse unerstorbene, unausrottbare Kindlichkeit durchdringt unser Volk; im
geraden Widerspruch zu unserem Besten, dem untrüglichen praktischen
Verstande, handeln wir manchmal ganz und gar töricht, und zwar eben in der
Art, wie Kinder töricht handeln, sinnlos, verschwenderisch, großzügig,
leichtsinnig und dies alles oft einem kleinen Spaß zuliebe. Und wenn unsere
Freude darüber natürlich nicht mehr die volle Kraft der Kinderfreude haben
kann, etwas von dieser lebt darin noch gewiß. Von dieser Kindlichkeit
unseres Volkes profitiert seit jeher auch Josefine.
Aber unser Volk ist nicht nur
kindlich, es ist gewissermaßen auch vorzeitig alt, Kindheit und Alter machen
sich bei uns anders als bei anderen. Wir haben keine Jugend, wir sind gleich
Erwachsene, und Erwachsene sind wir dann zu lange, eine gewisse Müdigkeit
und Hoffnungslosigkeit durchzieht von da aus mit breiter Spur das im ganzen
doch so zähe und hoffnungsstarke Wesen unseres Volkes. Damit hängt wohl auch
unsere Unmusikalität zusammen; wir sind zu alt für Musik, ihre [72]
Erregung, ihr Aufschwung paßt nicht für unsere Schwere, müde winken wir ihr
ab; wir haben uns auf das Pfeifen zurückgezogen; ein wenig Pfeifen hie und
da, das ist das Richtige für uns. Wer weiß, ob es nicht Musiktalente unter
uns gibt; wenn es sie aber gäbe, der Charakter der Volksgenossen müßte sie
noch vor ihrer Entfaltung unterdrücken. Dagegen mag Josefine nach ihrem
Belieben pfeifen oder singen oder wie sie es nennen will, das stört uns
nicht, das entspricht uns, das können wir wohl vertragen; wenn darin etwas
von Musik enthalten sein sollte, so ist es auf die möglichste Nichtigkeit
reduziert; eine gewisse Musiktradition wird gewahrt, aber ohne daß uns dies
im geringsten beschweren würde.
Aber Josefine bringt diesem
so gestimmten Volke noch mehr. Bei ihren Konzerten, besonders in ernster
Zeit, haben nur noch die ganz Jungen Interesse an der Sängerin als solcher,
nur sie sehen mit Staunen zu, wie sie ihre Lippen kräuselt, zwischen den
niedlichen Vorderzähnen die Luft ausstößt, in Bewunderung der Töne, die sie
selbst hervorbringt, erstirbt und dieses Hinsinken benützt, um sich zu
neuer, ihr immer unverständlicher [73] werdender Leistung anzufeuern, aber
die eigentliche Menge hat sich – das ist deutlich zu erkennen – auf sich
selbst zurückgezogen. Hier in den dürftigen Pausen zwischen den Kämpfen
träumt das Volk, es ist, als lösten sich dem Einzelnen die Glieder, als
dürfte sich der Ruhelose einmal nach seiner Lust im großen warmen Bett des
Volkes dehnen und strecken. Und in diese Träume klingt hie und da Josefinens
Pfeifen; sie nennt es perlend, wir nennen es stoßend; aber jedenfalls ist es
hier an seinem Platze, wie nirgends sonst, wie Musik kaum jemals den auf sie
wartenden Augenblick findet. Etwas von der armen kurzen Kindheit ist darin,
etwas von verlorenem, nie wieder aufzufindendem Glück, aber auch etwas vom
tätigen heutigen Leben ist darin, von seiner kleinen, unbegreiflichen und
dennoch bestehenden und nicht zu ertötenden Munterkeit. Und dies alles ist
wahrhaftig nicht mit großen Tönen gesagt, sondern leicht, flüsternd,
vertraulich, manchmal ein wenig heiser. Natürlich ist es ein Pfeifen. Wie
denn nicht? Pfeifen ist die Sprache unseres Volkes, nur pfeift mancher sein
Leben lang und weiß es nicht, hier aber ist das Pfeifen freigemacht [74] von
den Fesseln des täglichen Lebens und befreit auch uns für eine kurze Weile.
Gewiß, diese Vorführungen wollten wir nicht missen.
Aber von da bis zu Josefinens
Behauptung, sie gebe uns in solchen Zeiten neue Kräfte usw. usw., ist noch
ein sehr weiter Weg. Für gewöhnliche Leute allerdings, nicht für Josefinens
Schmeichler. „Wie könnte es anders sein“ – sagen sie in recht unbefangener
Keckheit – „wie könnte man anders den großen Zulauf, besonders unter
unmittelbar drängender Gefahr, erklären, der schon manchmal sogar die
genügende, rechtzeitige Abwehr eben dieser Gefahr verhindert hat.“ Nun, dies
letztere ist leider richtig, gehört aber doch nicht zu den Ruhmestiteln
Josefinens, besonders wenn man hinzufügt, daß, wenn solche Versammlungen
unerwartet vom Feind gesprengt wurden, und mancher der unserigen dabei sein
Leben lassen mußte, Josefine, die alles verschuldet, ja, durch ihr Pfeifen
den Feind vielleicht angelockt hatte, immer im Besitz des sichersten
Plätzchens war und unter dem Schutze ihres Anhanges sehr still und eiligst
als erste verschwand. Aber auch dieses wissen im Grunde alle, und dennoch
eilen sie wieder hin, [75] wenn Josefine nächstens nach ihrem Belieben
irgendwo, irgendwann zum Gesange sich erhebt. Daraus könnte man schließen,
daß Josefine fast außerhalb des Gesetzes steht, daß sie tun darf, was sie
will, selbst wenn es die Gesamtheit gefährdet, und daß ihr alles verziehen
wird. Wenn dies so wäre, dann wären auch Josefinens Ansprüche völlig
verständlich, ja, man könnte gewissermaßen in dieser Freiheit, die ihr das
Volk geben würde, in diesem außerordentlichen, niemand sonst gewährten, die
Gesetze eigentlich widerlegenden Geschenk ein Eingeständnis dessen sehen,
daß das Volk Josefine, wie sie es behauptet, nicht versteht, ohnmächtig ihre
Kunst anstaunt, sich ihrer nicht würdig fühlt, dieses Leid, daß es Josefine
tut, durch eine geradezu verzweifelte Leistung auszugleichen strebt und, so
wie ihre Kunst außerhalb seines Fassungsvermögens ist, auch ihre Person und
deren Wünsche außerhalb seiner Befehlsgewalt stellt. Nun, das ist allerdings
ganz und gar nicht richtig, vielleicht kapituliert im einzelnen das Volk zu
schnell vor Josefine, aber wie es bedingungslos vor niemandem kapituliert,
also auch nicht vor ihr.
[76] Schon seit langer Zeit,
vielleicht schon seit Beginn ihrer Künstlerlaufbahn, kämpft Josefine darum,
daß sie mit Rücksicht auf ihren Gesang von jeder Arbeit befreit werde; man
solle ihr also die Sorge um das tägliche Brot und alles, was sonst mit
unserem Existenzkampf verbunden ist, abnehmen und es – wahrscheinlich – auf
das Volk als Ganzes überwälzen. Ein schnell Begeisterter – es fanden sich
auch solche - könnte schon allein aus der Sonderbarkeit dieser Forderung,
aus der Geistesverfassung, die eine solche Forderung auszudenken imstande
ist, auf deren innere Berechtigung schließen. Unser Volk zieht aber andere
Schlüsse, und lehnt ruhig die Forderung ab. Es müht sich auch mit der
Widerlegung der Gesuchsbegründung nicht sehr ab. Josefine weist z. B. darauf
hin, daß die Anstrengung bei der Arbeit ihrer Stimme schade, daß zwar die
Anstrengung bei der Arbeit gering sei im Vergleich zu jener beim Gesang, daß
sie ihr aber doch die Möglichkeit nehme, nach dem Gesang sich genügend
auszuruhen und für neuen Gesang sich zu stärken, sie müsse sich dabei
gänzlich erschöpfen und könne trotzdem unter diesen Umständen ihre
Höchstleistung niemals erreichen. [77] Das Volk hört sie an und geht darüber
hinweg. Dieses so leicht zu rührende Volk ist manchmal gar nicht zu rühren.
Die Abweisung ist manchmal so hart, daß selbst Josefine stutzt, sie scheint
sich zu fügen, arbeitet wie sichs gehört, singt so gut sie kann, aber das
alles nur eine Weile, dann nimmt sie den Kampf mit neuen Kräften – dafür
scheint sie unbeschränkt viele zu haben – wieder auf.
Nun ist es ja klar, daß
Josefine nicht eigentlich das anstrebt, was sie wörtlich verlangt. Sie ist
vernünftig, sie scheut die Arbeit nicht, wie ja Arbeitsscheu überhaupt bei
uns unbekannt ist, sie würde auch nach Bewilligung ihrer Forderung gewiß
nicht anders leben als früher, die Arbeit würde ihrem Gesang gar nicht im
Wege stehn, und der Gesang allerdings würde auch nicht schöner werden – was
sie anstrebt, ist also nur die öffentliche, eindeutige, die Zeiten
überdauernde, über alles bisher Bekannte sich weit erhebende Anerkennung
ihrer Kunst. Während ihr aber fast alles andere erreichbar scheint, versagt
sich ihr dieses hartnäckig. Vielleicht hätte sie den Angriff gleich anfangs
in andere Richtung lenken sollen, vielleicht [78] sieht sie jetzt selbst den
Fehler ein, aber nun kann sie nicht mehr zurück, ein Zurückgehen hieße sich
selbst untreu werden, nun muß sie schon mit dieser Forderung stehen oder
fallen.
Hätte sie wirklich Feinde,
wie sie sagt, sie könnten diesem Kampfe, ohne selbst den Finger rühren zu
müssen, belustigt zusehen. Aber sie hat keine Feinde, und selbst wenn
mancher hie und da Einwände gegen sie hat, dieser Kampf belustigt niemanden.
Schon deshalb nicht, weil sich hier das Volk in seiner kalten richterlichen
Haltung zeigt, wie man es sonst bei uns nur sehr selten sieht. Und wenn
einer auch diese Haltung in diesem Falle billigen mag, so schließt doch die
bloße Vorstellung, daß sich einmal das Volk ähnlich gegen ihn selbst
verhalten könnte, jede Freude aus. Es handelt sich eben auch bei der
Abweisung, ähnlich wie bei der Forderung, nicht um die Sache selbst, sondern
darum, daß sich das Volk gegen einen Volksgenossen derart undurchdringlich
abschließen kann und um so undurchdringlicher, als es sonst für eben diesen
Genossen väterlich und mehr als väterlich, demütig sorgt.
Stünde hier an Stelle des
Volkes ein Einzelner: [79] man könnte glauben, dieser Mann habe die ganze
Zeit über Josefine nachgegeben unter dem fortwährenden brennenden Verlangen
endlich der Nachgiebigkeit ein Ende zu machen; er habe übermenschlich viel
nachgegeben im festen Glauben, daß das Nachgeben trotzdem seine richtige
Grenze finden werde; ja, er habe mehr nachgegeben als nötig war, nur um die
Sache zu beschleunigen, nur, um Josefine zu verwöhnen und zu immer neuen
Wünschen zu treiben, bis sie dann wirklich diese letzte Forderung erhob; da
habe er nun freilich, kurz, weil längst vorbereitet, die endgültige
Abweisung vorgenommen. Nun, so verhält es sich ganz gewiß nicht, das Volk
braucht solche Listen nicht, außerdem ist seine Verehrung für Josefine
aufrichtig und erprobt und Josefinens Forderung ist allerdings so stark, daß
jedes unbefangene Kind ihr den Ausgang hätte voraussagen können; trotzdem
mag es sein, daß in der Auffassung, die Josefine von der Sache hat, auch
solche Vermutungen mitspielen und dem Schmerz der Abgewiesenen eine
Bitternis hinzufügen.
Aber mag sie auch solche
Vermutungen haben, vom Kampf abschrecken läßt sie sich dadurch [80] nicht.
In letzter Zeit verschärft sich sogar der Kampf; hat sie ihn bisher nur
durch Worte geführt, fängt sie jetzt an, andere Mittel anzuwenden, die ihrer
Meinung nach wirksamer, unserer Meinung nach für sie selbst gefährlicher
sind.
Manche glauben, Josefine
werde deshalb so dringlich, weil sie sich alt werden fühle, die Stimme
Schwächen zeige, und es ihr daher höchste Zeit zu sein scheine, den letzten
Kampf um ihre Anerkennung zu führen. Ich glaube daran nicht. Josefine wäre
nicht Josefine, wenn dies wahr wäre. Für sie gibt es kein Altern und keine
Schwächen ihrer Stimme. Wenn sie etwas fordert, so wird sie nicht durch
äußere Dinge, sondern durch innere Folgerichtigkeit dazu gebracht. Sie
greift nach dem höchsten Kranz, nicht, weil er im Augenblick gerade ein
wenig tiefer hängt, sondern weil es der höchste ist; wäre es in ihrer Macht,
sie würde ihn noch höher hängen.
Diese Mißachtung äußerer
Schwierigkeiten hindert sie allerdings nicht, die unwürdigsten Mittel
anzuwenden. Ihr Recht steht ihr außer Zweifel; was liegt also daran, wie sie
es erreicht; besonders da doch in dieser Welt, so wie sie sich ihr
darstellt, [81] gerade die würdigen Mittel versagen müssen. Vielleicht hat
sie sogar deshalb den Kampf um ihr Recht aus dem Gebiet des Gesanges auf ein
anderes ihr wenig teures verlegt. Ihr Anhang hat Aussprüche von ihr in
Umlauf gebracht, nach denen sie sich durchaus fähig fühlt, so zu singen, daß
es dem Volk in allen seinen Schichten bis in die versteckteste Opposition
hinein eine wirkliche Lust wäre, wirkliche Lust nicht im Sinne des Volkes,
welches ja behauptet, diese Lust seit jeher bei Josefinens Gesang zu fühlen,
sondern Lust im Sinne von Josefinens Verlangen. Aber, fügt sie hinzu, da sie
das Hohe nicht fälschen und dem Gemeinen nicht schmeicheln könne, müsse es
eben bleiben, wie es sei. Anders aber ist es bei ihrem Kampf um die
Arbeitsbefreiung, zwar ist es auch ein Kampf um ihren Gesang, aber hier
kämpft sie nicht unmittelbar mit der kostbaren Waffe des Gesanges, jedes
Mittel, das sie anwendet, ist daher gut genug.
So wurde z. B. das Gerücht
verbreitet, Josefine beabsichtige, wenn man ihr nicht nachgebe, die
Koloraturen zu kürzen. Ich weiß nichts von Koloraturen, habe in ihrem
Gesange niemals etwas von Koloraturen bemerkt. Josefine aber will die
Koloraturen [82] kürzen, vorläufig nicht beseitigen, sondern nur kürzen. Sie
hat angeblich ihre Drohung wahr gemacht, mir allerdings ist kein Unterschied
gegenüber ihren früheren Vorführungen aufgefallen. Das Volk als Ganzes hat
zugehört wie immer, ohne sich über die Koloraturen zu äußern, und auch die
Behandlung von Josefinens Forderung hat sich nicht geändert. Übrigens hat
Josefine, wie in ihrer Gestalt, unleugbar auch in ihrem Denken manchmal
etwas recht Graziöses. So hat sie z. B. nach jener Vorführung, so als sei
ihr Entschluß hinsichtlich der Koloraturen gegenüber dem Volk zu hart oder
zu plötzlich gewesen, erklärt, nächstens werde sie die Koloraturen doch
wieder vollständig singen. Aber nach dem nächsten Konzert besann sie sich
wieder anders, nun sei es endgültig zu Ende mit den großen Koloraturen, und
vor einer für Josefine günstigen Entscheidung kämen sie nicht wieder. Nun,
das Volk hört über alle diese Erklärungen, Entschlüsse und
Entschlußänderungen hinweg, wie ein Erwachsener in Gedanken über das
Plaudern eines Kindes hinweghört, grundsätzlich wohlwollend, aber
unerreichbar.
Josefine aber gibt nicht
nach. So behauptete [83] sie z. B. neulich, sie habe sich bei der Arbeit
eine Fußverletzung zugezogen, die ihr das Stehen während des Gesanges
beschwerlich mache; da sie aber nur stehend singen könne, müsse sie jetzt
sogar die Gesänge kürzen. Trotzdem sie hinkt und sich von ihrem Anhang
stützen läßt, glaubt niemand an eine wirkliche Verletzung. Selbst die
besondere Empfindlichkeit ihres Körperchens zugegeben, sind wir doch ein
Arbeitsvolk und auch Josefine gehört zu ihm; wenn wir aber wegen jeder
Hautabschürfung hinken wollten, dürfte das ganze Volk mit Hinken gar nicht
aufhören. Aber mag sie sich wie eine Lahme führen lassen, mag sie sich in
diesem bedauernswerten Zustand öfters zeigen als sonst, das Volk hört ihren
Gesang dankbar und entzückt wie früher, aber wegen der Kürzung macht es
nicht viel Aufhebens.
Da sie nicht immerfort hinken
kann, erfindet sie etwas anderes, sie schützt Müdigkeit vor, Mißstimmung,
Schwäche. Wir haben nun außer dem Konzert auch ein Schauspiel. Wir sehen
hinter Josefine ihren Anhang, wie er sie bittet und beschwört zu singen. Sie
wollte gern, aber sie kann nicht. Man tröstet sie, umschmeichelt sie, [84]
trägt sie fast auf den schon vorher ausgesuchten Platz, wo sie singen soll.
Endlich gibt sie mit undeutbaren Tränen nach, aber wie sie mit offenbar
letztem Willen zu singen anfangen will, matt, die Arme nicht wie sonst
ausgebreitet, sondern am Körper leblos herunterhängend, wobei man den
Eindruck erhält, daß sie vielleicht ein wenig zu kurz sind – wie sie so
anstimmen will, nun, da geht es doch wieder nicht, ein unwilliger Ruck des
Kopfes zeigt es an und sie sinkt vor unseren Augen zusammen. Dann allerdings
rafft sie sich doch wieder auf und singt, ich glaube, nicht viel anders als
sonst, vielleicht wenn man für feinste Nuancen das Ohr hat, hört man ein
wenig außergewöhnliche Erregung heraus, die der Sache aber nur zugute kommt.
Und am Ende ist sie sogar weniger müde als vorher, mit festem Gang, soweit
man ihr huschendes Trippeln so nennen kann, entfernt sie sich, jede Hilfe
des Anhangs ablehnend und mit kalten Blicken die ihr ehrfurchtsvoll
ausweichende Menge prüfend.
So war es letzthin, das
Neueste aber ist, daß sie zu einer Zeit, wo ihr Gesang erwartet wurde,
verschwunden war. Nicht nur der Anhang sucht sie, [85] viele stellen sich in
den Dienst des Suchens, es ist vergeblich; Josefine ist verschwunden, sie
will nicht singen, sie will nicht einmal darum gebeten werden, sie hat uns
diesmal völlig verlassen.
Sonderbar, wie falsch sie
rechnet, die Kluge, so falsch, daß man glauben sollte, sie rechne gar nicht,
sondern werde nur weiter getrieben von ihrem Schicksal, das in unserer Welt
nur ein sehr trauriges werden kann. Selbst entzieht sie sich dem Gesang,
selbst zerstört sie die Macht, die sie über die Gemüter erworben hat. Wie
konnte sie nur diese Macht erwerben, da sie diese Gemüter so wenig kennt.
Sie versteckt sich und singt nicht, aber das Volk, ruhig, ohne sichtbare
Enttäuschung, herrisch, eine in sich ruhende Masse, die förmlich, auch wenn
der Anschein dagegen spricht, Geschenke nur geben, niemals empfangen kann,
auch von Josefine nicht, dieses Volk zieht weiter seines Weges.
Mit Josefine aber muß es
abwärts gehn. Bald wird die Zeit kommen, wo ihr letzter Pfiff ertönt und
verstummt. Sie ist eine kleine Episode in der ewigen Geschichte unseres
Volkes und das Volk wird den Verlust überwinden. Leicht wird es uns [86] ja
nicht werden; wie werden die Versammlungen in völliger Stummheit möglich
sein? Freilich, waren sie nicht auch mit Josefine stumm? War ihr wirkliches
Pfeifen nennenswert lauter und lebendiger, als die Erinnerung daran sein
wird? War es denn noch bei ihren Lebzeiten mehr als eine bloße Erinnerung?
Hat nicht vielmehr das Volk in seiner Weisheit Josefinens Gesang, eben
deshalb, weil er in dieser Art unverlierbar war, so hoch gestellt?
Vielleicht werden wir also
gar nicht sehr viel entbehren, Josefine aber, erlöst von der irdischen
Plage, die aber ihrer Meinung nach Auserwählten bereitet ist, wird fröhlich
sich verlieren in der zahllosen Menge der Helden unseres Volkes, und bald,
da wir keine Geschichte treiben, in gesteigerter Erlösung vergessen sein wie
alle ihre Brüder.
(Quelle: Franz Kafka, Ein Hungerkünstler. Vier Geschichten, Berlin: Die
Schmiede 1924, S.52-86
https://de.wikisource.org/wiki/Josefine,_die_Sängerin_oder_das_Volk_der_Mäuse
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die Sängerin oder das Volk der Mäuse, von
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Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
14.10.2024