Gerade
mal 13 Jahre alt war das Mädchen aus Florida, das im Jahr 2009 am Ende
eines tragischen Dramas freiwillig aus dem Leben schied. Hope Witsell,
ein Mädchen aus einem ländlich geprägten Vorort von Sundance in Florida,
ging dort in die Beth Shields Middle School und war eines von drei
Kindern von Charlie und Donna Witsell in einer zwar religiösen, aber
keineswegs weltfremden Familie. Der Vater achtete nämlich nach eigenen
Angaben darauf, seinen Kindern auch im Umgang mit modernen Medien,
insbesondere dem Internet, zu zeigen. Er bemühte sich, mit ihnen darüber zu sprechen,
was sie sich dort ansehen sollten und was eben eher nicht.
Als die 13-Jährige sich verliebt, sendet sie ihrem Schwarm ein
selbstgeschossenes Handyfoto, das sie oben ohne zeigt. Dort wird das
Foto offenbar von einem anderen Mädchen entdeckt, welche das Handy des
männlichen Adressaten in die Hand bekommt. Prompt leitet sie es weiter.
Ein paar Tage später kursiert das Foto an allen möglichen Schulen der
Umgebung. Wo immer sich Hope zeigt, wird sie deshalb angemacht und als
Schlampe diffamiert.
Aus Sexting, dem was von der Teenagerin
ursprünglich wohl "als wechselseitiger intimer Austausch" im
Rahmen ihrer Liebesbeziehung (vgl. Döring
2012, S.49) gedacht war, wurde so über Nacht ein Mobbing-Fall.
Als das Bild auch noch im sozialen Netzwerk von MySpace auftauchte,
verschärfte sich das Ganze zu einem
Cyber-Mobbing-Problem, aus dem das Opfer keinen Ausweg mehr fand.
Das lag nicht zuletzt daran, dass sich die Erwachsenen,
bis zu einem gewissen Grad sogar ihre Eltern, sich gegen sie stellten.
Wegen der vermeintlichen Schande, die das Mädchen über alle gebracht hatte, bestraften sie
sie sogar, statt ihr beizustehen. Die Eltern nahmen ihr das
Handy ab und verhängten wochenlang Hausarrest. Die Schule reagierte mit zeitweisem
Schulausschluss und verbot ihr eine AG zu besuchen, an der sie besonders
gern teilnahm. So wurde der Druck, dem sich das Mädchen standhalten
musste, immer größer. Sie spielte offenbar schon mit dem Gedanken sich
völlig aufzugeben. Aber weiterhin stand sie allein. In ihrer
Verzweiflung richtete sie sich gegen sich selbst. Sie fügte selbst sich
Schnitte an den Beinen zu, um sich nun auch selbst zu bestrafen. Ein
Schulsozialarbeiter, der die ersten Anzeichen von
Selbstverstümmelung entdeckte, unterschätzte die
akute Suizidgefährdung des Mädchens, auch wenn er die Möglichkeit
prinzipiell nicht ausschloss. Aus diesem Grund vereinbarte er mit Home,
dass sie ihn beim Aufkommen von Selbstmordgedanken sofort aufsuchen
sollte. Allerdings schien er nicht sonderlich beunruhigt. So wundert es
auch nicht, dass weder die Eltern informierte noch den Schulpsychologen
um Mithilfe bat, wie das ansonsten in solchen Fällen geschieht.
Ihrem Tagebuch vertraute
Hope, die abgesehen von zwei Freundinnen, niemanden hatte, der zu ihr
stand, ihren Entschluss zum Suizid
einen Tag, bevor sie sich erhängte, mit den Worten an: “I’m done for sure now. I can feel it in my stomach. I’m going to try and
strangle myself. I hope it works.” Einen Tag später wurde sie von ihrer
Mutter, die ihr noch einen Gute-Nacht-Kuss geben wollte, gefunden:
Stranguliert. (vgl.
Inbar 2009)
Der Fall Witsell war bis 2009 der zweite bekannt gewordene Suizid
infolge von Sexting bzw. Mobbing im Gefolge von Sextingaktivitäten. Im
gleichen Jahr hatte sich schon die 18jährige Jesse Logan selbst getötet,
weil ihr Ex-Freund nach der Trennung freizügige Fotos von ihr in Umlauf
gebracht hat. (»Video:
‘Sexting’ leads teen to suicide, engl.)
Nach dem Tod von Hope Witsell und Jesse Logan wurde das Thema, zunächst
in den USA, dann aber auch in Deutschland, von den Medien aufgegriffen.
Symptomatisch dafür z. B. die SWR-Produktion des Filmes "Netzangriff",
der an vielen Schulen zur Unterstützung der polizeilichen
Präventionsarbeit eingesetzt wird und mittlerweile
in
voller Länge auf der Videoplattform YouTube (44.29 min) angesehen
werden kann. (»Begleitheft).
Auch der
Kinderkanal hat auf seiner Online-Präsenz dazu Materialien
eingestellt. Dabei verzichtet der
Plot jedoch auf
die Konstruktion eines Sexting-Falles. Klara Stolz, die Hauptfigur,
verliert nämlich ihr Handy, auf dem sie ein paar selbstgeschossene Fotos
hat, die sie nur mit ihrer Unterwäsche bekleidet zeigen. Ein Junge aus
ihrer Klasse findet das Handy, und darauf die Fotos, und postet sie
in einem sozialen Netzwerk mit einem Fake-Account, den er dort unter dem
gleichen Namen, nämlich Klara Stolz, angemeldet hat. So nimmt der
Mobbing und Cyber-Mobbing-Fall allmählich Fahrt auf und endet am Ende -
beinahe tragisch, aber doch eben gut. Der Plot umschifft das
Sexting-Problem offenbar sehr bewusst. Statt Sexting als eine Praxis
riskanten Medienverhaltens im Rahmen einer intimen Paar-Kommunikation zu
thematisieren, wird der übermäßige Alkoholgenuss, unter dessen Einfluss
Klara ihr Handy verliert, also ein schon "verwerflicher" Kontrollverlust
(!), die Handlung, die das Ganze erst ins Rollen bringt. Damit schließt
sich der Kreis wieder: Die aktive Rolle, die die Mädchen bei ihrer eigenen
Sexualisierung (self-sexualization) übernehmen (vgl. Calvert,
Clay 2009, S.12), gerät damit außer Blick und eine Chance,
genau darüber ins Gespräch zu kommen wird vertan.
Das Schicksal von Hope Witsell, die weder durch übermäßigen
Alkoholkonsum oder Drogenkonsum wie Klara Stolz im Film aufgefallen ist,
noch ins Internat abgeschoben und dort wieder herausgeflogen ist, lehrt
eben etwas anderes als die für die polizeiliche Prävention
instrumentalisierte Tatort-Kinderkrimi-Produktion des SWR: Es ist das
tragische Schicksal eines jungen Mädchens, das im gesellschaftlichen
Kontext von Sexualisierung und Selbstsexualisierung "ganz normal" und
völlig unspektakulär agiert hat und infolge eines riskanten
Mediennutzungsverhaltens, dessen mögliche Auswirkungen bei
Vertrauensmissbrauch oder Verlust der Kontrolle über die Daten sie
wahrscheinlich nicht übersehen hat, von der Gesellschaft mit ihrer
Doppelmoral in den Tod getrieben worden ist. (vgl. Döring
2012, S.52)
Autor: Gert Egle, 7.12.2013 - www.teachsam.de
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