Filmverstehen geht dabei
wie oben beschrieben
von einem anderen Verständnis von Filmen aus. Im Mittelpunkt steht
einerseits die Frage danach, wie Filme in erster Linie verstanden und erst
in zweiter Linie interpretiert werden, andererseits die Frage, wie sich
Filme als bedeutungsvoller Diskurs in sozialen Gruppen und in der
Gesellschaft konstituieren. Idealerweise werden in der Analyse formale und
inhaltliche Elemente berücksichtigt, jedoch nicht an und für sich,
sondern unter Berücksichtigung von Produktion und Rezeption, die im
Rahmen diskursiver, kultureller und gesellschaftlicher Kontexte gesehen
werden. Zu diesem Ziel führen verschiedene Wege und Methoden, die jedoch
alle ihre Stärken und Grenzen haben. [...]So entstand die Idee, anhand eines Beispielfilms verschiedene
Analyseansätze darzustellen und zu diskutieren. Als Film wurde
Trainspotting (Großbritannien 1995, Danny Boyle) ausgewählt. Der Film
hatte in der öffentlichen Diskussion zu Kontroversen um unterschiedliche
Interpretationen geführt und schien daher besonders geeignet, die
verschiedenen Analyseverfahren an ihm vorzuführen. Die vier vorgestellten
Verfahren waren die tiefenhermeneutische Rekonstruktion (König), ein
textanalytisches Verfahren (Struck/Wulff) sowie zwei diskursanalytische
Verfahren, die sich einerseits auf die diskursanalytische Tradition in der
Literaturwissenschaft bezogen (Müller) und andererseits auf die
Diskursanalyse, wie sie sich in der Tradition der Cultural Studies
entwickelt hat (Winter). [...]
Während es der tiefenhermeneutischen Rekonstruktion um die Offenlegung
von manifesten und latenten Sinnstrukturen und den davon betroffenen
Lebensentwürfen im Film geht, leistet die Textanalyse eine Rekonstruktion
der narrativen Struktur und der Strategien der Darstellung des Films. Die
literaturwissenschaftlich orientierte Diskursanalyse begreift den Film als
eine "institutionalisierte Aussagenmenge" (Plumpe 1988), die als
eine der möglichen Aussagen in einem historischen Feld verstanden werden.
Die an den Cultural Studies orientierte Diskursanalyse begreift dagegen
den Filmtext als symbolisches Material, das erst im Rahmen von
spezifischen Diskursen Sinn macht und rückt so die sozialen Kontexte der
Rezeption in den Mittelpunkt.
Jeder Ansatz setzt so in der Analyse bzw. dem Prozess des Filmverstehens
unterschiedliche Schwerpunkte und kommt so auch zu unterschiedlichen
Ergebnissen. Die tiefenhermeneutische Rekonstruktion arbeitet
Szenenkomplexe heraus, in denen subjektive Erfahrungen aufgegriffen werden
wie z.B. den Szenenkomplex, "Spaß daran zu haben, ein Junkie zu
sein". Sie leistet so eine "textimmanente Rekonstruktion der
ästhetischen Sinnstruktur" (König). Die Textanalyse arbeitet
globale Strukturen des Films heraus, die sie mit den Begriffen
"vorher nachher" beschreibt und zeigt, wie sich das
semantische Potential von Trainspotting über seine narrative Struktur
entfaltet. Die Diskursanalyse von Müller arbeitet die Drogenproblematik
als zentralen Diskurskomplex des Films heraus und zeigt, dass
Trainspotting anders damit umgeht als vergleichbare
"Drogenfilme". Alle drei Methoden des Filmverstehens
konzentrieren sich auf das Thema des Films, den Genuss von Drogen als
Aktivität einer Subkultur. Die an den Cultural Studies orientierte
Diskursanalyse geht über diesen Aspekt weit hinaus, indem sie die
Diskurskomplexe der Gesellschaft heranzieht, um anhand der Kritiken zu dem
Film die verschiedenen Lesarten von Trainspotting als Elemente eben dieser
gesellschaftlichen Diskurspraktiken deutlich zu machen.
Abgesehen von der textanalytischen Variante gehen alle Ansätze auf den
Inhalt des Films ein, dramaturgische und formale Darstellungsmittel
spielen dabei keine Rolle. Wenn man davon ausgeht, dass die Strukturen des
Filmtextes aber die Rezeption eines Filmes vorstrukturieren, so bleibt
dieser Aspekt bei diesen drei Ansätzen unberücksichtigt bzw. auf den
Inhalt beschränkt. Lediglich in der Textanalyse wird aufgrund der
narrativen Struktur das semantische Potential des Filmes entfaltet. Alle
vier methodischen Zugangsweisen machen jedoch deutlich, dass der Film
nicht einfach als Anti- oder Pro-Drogenfilm gesehen werden kann, sondern
dass er zahlreiche Brüche enthält, sowohl ästhetische als auch
narrative und inhaltliche. Sie zeigen damit, wie komplex ein populärer
Film sein kann. Damit sind sie klassischen Varianten der Inhaltsanalyse
und der Filminterpretation überlegen, da jene darauf aus sind, eine einheitliche, kohärente
Botschaft oder Ideologie des Films auszumachen.
Ein wesentlicher Unterschied zwischen den vier Zugängen zu dem Film ist
der ihnen zugrundeliegende Textbegriff. Die tiefenhermeneutische
Rekonstruktion und die Textanalyse gehen von einem abgeschlossenen Text
aus. Während in der Textanalyse vom Text als "gestalteter
Ganzheit" (Struck/Wulff) ausgegangen wird, in der werkbezogen die
Elemente analysiert werden können, sieht die tiefenhermeneutische
Rekonstruktion den Text als eine geschlossene Sinneinheit, aus der die
manifesten und latenten Sinnstrukturen herausgearbeitet werden können.
Die beiden Ansätze der Diskursanalyse zeigen jedoch, dass es den Sinn
eines Filmtextes nicht gibt und nicht geben kann. Sie sehen den Filmtext
in ein Netz von Diskursen verwoben, die verschiedene Lesarten
hervorbringen. In den ersten beiden Fällen bildet der Text einen Korpus,
aus dem Elemente herausgearbeitet oder Sinn herausinterpretiert werden
kann, in der Diskursanalyse ist er dagegen nur als Teil eines
Kommunikationsprozesses denkbar. Grundsätzlich besteht allerdings auch in
der Tiefenhermeneutik die Vorstellung, dass "es eigentlich keinen 'Originaltext'
gibt, denn der wäre ja nicht-gelesen, nicht-gehört oder nicht-gesehen
(vgl. Belgrad 1996, S. 52).
Auch wenn zwischen den Ansätzen unterschiedliche Textbegriffe
hervorgehoben werden, besteht bei allen vier Zugangsweisen Einigkeit
darüber, dass ein Film auf der rein materiellen Basis einen Textkorpus
darstellt, der einen Anfang und ein Ende hat. Wird dieser materielle
Korpus aber zu symbolischem Material und tritt in Kommunikations- und
Interaktionsprozesse ein, kann er nicht mehr als geschlossene Einheit
betrachtet werden. Damit ist ein zentraler Punkt angesprochen. Denn
Filmtexte, die der Analyse zugänglich sind, sind in jedem Fall rezipierte
Texte. Hinzu kommt, dass Filmtexte immer zum Wissen der Zuschauer hin
geöffnet sind (vgl. Mikos 1996ff.). So geht die Tiefenhermeneutik
zwar richtig davon aus, "um zu Deutungen zu gelangen, dient unser
Alltagsverständnis und unsere eigene Subjektivität als erste Basis
für die Deutungen"; sie sieht darin aber nur "die Voraussetzung für
die objektivierende Interpretation" (Belgrad 1996, S. 56). Damit
wird letztlich unterstellt, dass es so etwas wie eine objektiv
richtige Interpretation eines Filmes gibt. Die Diskursanalyse macht
dagegen deutlich, dass jede Interpretation von den sozialen und
kulturellen Diskursen abhängt, die in der Gesellschaft kursieren.
Gerade weil die Filmtexte zum Wissen der Zuschauer hin geöffnet
sind, gelingt es ihnen, sich in der Rezeption in die sozialen und
kulturellen Diskurse einzuklinken.
Ein Film ist so aufgrund der Tatsache, dass er rezipiert wird, immer in
ein unbegrenztes Spiel von Bedeutungen verstrickt. In diesem Spiel werden
aber aufgrund von ideologischen Strukturen, spezifischen kulturellen und
sozialen Diskursen bestimmte Bedeutungen favorisiert. Die von der
Tiefenhermeneutik herausgearbeitete "objektivierende
Interpretation" stellt daher nur eine der Bedeutungsstrukturen des
Textes dar, die von einem spezifischen Diskurs abhängt, dem der
psychoanalytischen, tiefenhermeneutischen Rekonstruktion, aber auch von
ideologischen, sozialen und kulturellen Diskursen, die diesen
spezifischen Diskurs beeinflussen. Eine "objektivierende
Interpretation" ist ohne die Diskurse, in die sie eingebettet ist,
nicht möglich.
Für medienpädagogische Forschung scheint es sinnvoll, Filmtexte nicht
als geschlossene Einheiten zu betrachten, aus denen ein manifester und
latenter Sinn rekonstruiert werden kann, sondern als in Diskurse
eintretende Texte, die in unterschiedlicher Weise gelesen werden können.
Nur so können z.B. die Zugangsweisen und Lesarten von Kindern und
Jugendlichen zu populären Filmen in die medienpädagogische Arbeit
einfließen. Es nützt z.B. nichts, die Rocky-Filme mit Sylvester Stallone
ausschließlich als körperbetonte Männlichkeitsrituale zu sehen, wenn
nicht die komplexe Struktur der Filme mit einbezogen wird und andere
Bedeutungsebenen verstanden werden, die der Film nahe legt und die auf
soziale Diskurse rekurrieren. Solche Filme können in unterschiedlichen
sozialen Kontexten auch unterschiedlichen Sinn machen. Die Lesarten von
Medienpädagogen, Gymnasiasten und arbeitslosen Jugendlichen aus
marginalisierten Familien unterscheiden sich mit großer
Wahrscheinlichkeit. Die Diskursanalyse wäre, will man den Gründen für
diese unterschiedlichen Lesarten auf die Spur kommen, sicher die
angemessenere Methode des Filmverstehens.
(aus: Lothar Mikos, Filmverstehen. Annäherung an ein Problem der
Medienforschung, in:
medien
praktisch Texte Nr. 1, S. 3-8, Sonderheft I/1998, leicht gekürzt;
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Verlags)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
08.06.2020