Flucht als eine Art Selbstbehauptung
Walter Sokels (2006) Sicht auf Kafkas "Poetik der Flucht"
Walter H. Sokel (1917-2014), einer der renommiertesten Kafka-Forscher, betont bei der
Betrachtung von Franz Kafkas "Brief
an den Vater", dass dieser sowie andere Dokumente aus Kafkas Leben
wie z. B. seine Tagebücher, "(...) von tiefstgehender Ambivalenz gegen
Autorität im Allgemeinen und die Autorität seines Vaters im Besonderen
(zeugen). Auch gaben sie schwersten Selbstzweifeln, bittersten
Selbstanklagen und der Selbstverdammung Ausdruck, die kaum ihresgleichen
in autobiographischem Schreiben finden. Verehrung des Vaters, der
prototypischen Autoritätsgestalt in Kafkas Leben, wechselte ab mit
zutiefst rebellischer, ironischer und satirischer Kritik.“ (Sokel
2006, S.22)
Zudem
entwirft Kafka nach Ansicht Sokels im Brief an den Vater in
gewisser Hinsicht seine "Poetik": "Darin gibt er zwei einander
widersprechende Intentionen an, die seinem Schreiben zugrunde liegen.
Einerseits, so behauptet er, handelt all‘ sein Schreiben von seinem
Vater. Schreiben ist ein armseliger Ersatz für die fehlende Anwesenheit
des Vaters, für die Verbundenheit mit ihm, die der Vater seinem Sohn
immer versagt hat. Im Schreiben, so legt es Kafka dar, stimmt er die
Klage an, die ihm an des Vaters Brust zu äußern untersagt ist. Das
Schreiben wird zum Ersatz des Lebens. Es gibt der Abwesenheit eine
Stimme; es weist auf die Lücke hin, durch die verschwunden ist, was das
Herz ersehnt. Schreiben ist Trauern um einen Verlust, ein verhüllter
Hilferuf um eine Wiederherstellung, die aber niemals kommen wird.
Schreiben drückt die Sehnsucht nach der unmöglichen Wiederkehr
väterlicher Gnade aus. […] Obgleich das erwachsene Ich die Wiederkehr
blockiert, deutet die Tätigkeit des Schreibens wenigstens die Richtung
an, in der eine Überwindung dieser Blockierung liegen mag. Schreiben
fungiert als symbolischer Ersatz für die Auflösung des Hindernisses, das
das Ich ist. […] (Sokel
2006, S.25f.)
Zugleich müsse man aber auch berücksichtigen, dass Kafka an einer
anderen Stelle im "Brief an den Vater" von einer geradezu
entgegengesetzten Intention für sein Schreiben spreche. An dieser Stelle
nämlich erklärt er, "dass sein Schreiben Flucht vor dem Vater ist, ein Streben
fort von ihm: Zuflucht und einzig mögliches Sich-Verbergen dort, wohin
die Macht des Vaters sich nicht erstreckt.“ (ebd.)
Die Vaterfigur, die Franz Kafka erlebt und in seinem ambivalenten
autobiographischen Schreiben darüber verarbeitet, wird dabei nach
Ansicht Sokels in seinem späteren Werk "erweitert und verallgemeinert
[…] zu patriarchalischer Autorität überhaupt und schließlich
kollektivisiert als Familie, Gemeinschaft, Volk, biologische Art und
Gattung und letzten Endes als prokreatives Leben, als Natur, als
physische Wirklichkeit“ (Sokel
2006, S.26)
Flucht als eine Art Selbstbehauptung
Walter Sokel erkennt aber in dem Bemühen von Franz Kafka, sich vor
dem Vater zu verbergen, nicht nur eine Fluchttendenz, die den Sohn nur
zum Opfer eines übermächtigen Vaters stempelt. Denn "Flucht ist", so
Sokel, "eben auch eine Art von Selbstbehauptung, da sie versucht, das
Selbst aus der Reichweite patriarchalischer Macht zu retten. In dieser
selbsterhaltenden Abwehr entdeckt das Selbst seine eigene Macht, zwar
völlig verschieden von der naturverliehenen Macht der Vatergestalt, aber
potenziell ihr überlegen wie das Geistige und Magische der natürlichen
Macht überlegen ist. In dieser Poetik der Flucht ist Schreiben kein
Trauern mehr um Fernbleiben und Verlust, sondern Basis trotziger
Selbsterhöhung und deren Bekräftigung." (Sokel
2006, S.26)
In ähnlicher Weise hat dies
»Marcel Reich-Ranicki
(1920-2013) (1982,
S.315ff.) ausgedrückt, der die "Angst vor dem Tod und also vor dem Leben"
als das zentrale Movens in Kafkas Leben allgemein und bei seinem
Schreiben ansieht. Seine Angst habe ihn letztlich zum Schreiben
gezwungen und sein Leben zur Qual gemacht und sein Werk sei damit
"Beschreibung eines Kampfes mit der Angst", " Angst vor der Demütigung
und Hilflosigkeit, vor Folter und Grausamkeit, vor dem Vater und vor der
Familie, vor der Schwäche und vor Impotenz, vor der Heimatlosigkeit und
der Vereinsamung, der Wurzellosigkeit und der Entfremdung, vor dem
jüdischen Schicksal".
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Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
08.09.2024