Das ist in der Tat verwunderlich, wenn man bedenkt, dass die
werkimmanente
Interpretationsmethode von der modernen Literaturwissenschaft längst
"abgehakt" ist.
Mehr noch: Dessen ungeachtet ist die werkimmanente Interpretation (auch:
textimmanent genannt) heute an den Schulen immer noch am weitesten
verbreitet.
Dies hat vor allem literaturdidaktische Gründe. Denn mit dieser
Methode, so wird behauptet, können Schülerinnen und Schüler durch Anwendung
bestimmter Regeln und Verfahren lernen, wie ein Verstehensprozess
nachvollziehbar, Deutungen überprüfbar und kommunizierbar
werden.
Allerdings wird diese Art der Interpretation heutzutage in der Regel nicht
"lupenrein" durchgeführt. Immer wieder werden, insbesondere
beim so genannten
Literarischen Thema, auch textübergreifende Aspekte aus der
Literaturgeschichte, der Biographie des Autors, der Rezeptions- und
Wirkungsgeschichte herangezogen. Genau dieses wird auch in den
Einheitlichen Prüfungsanforderungen in
der Abiturprüfung Deutsch (Beschluss der Kultusministerkonferenz vom
01.12.1989 i. d. F. vom 24.05.2002) im Hinblick auf die
Methode der Interpretation beim
untersuchenden
Erschließen literarischer Texte festgehalten: "Eine rein immanente Interpretation
reicht nicht aus; je nach Aufgabenstellung sind Zeithintergrund,
Autorbiografie, literaturgeschichtliche Einordnung, Entstehungsgeschichte
und literarische Wertung einzubeziehen." (Hervorh. d. Verf.)
Werkimmanent bedeutet nicht gleich richtig!
Das ist natürlich zunächst einmal eine Binsenweisheit: Es gibt keine
richtige Interpretation, im Sinne einer allgemeingültigen Interpretation.
Wenn überhaupt in einem solchen Zusammenhang von richtig und falsch
gesprochen werden kann, dann ist damit gemeint, dass es viele "richtige",
vom Standpunkt und der Perspektive des jeweiligen Interpreten abhängige
Interpretationen gibt und geben kann.
Man spricht in diesem Zusammenhang gerne von
Schlüssigkeit und Plausibilität, wenn man betonen will, dass eine der an
diesen Kriterien gemessene "zulässige" Interpretation darstellt.
Wer nach der
werkimmanente Methode einen Text interpretiert, muss
insbesondere beim Schulaufsatz nicht fürchten, dass ihm kein
Auslegungsspielraum gewährt wird. Dies wäre sowohl unter
literaturdidaktischen als auch unter literaturwissenschaftlichen
Gesichtspunkten nicht vertretbar.
Andererseits ist Reden oder Schreiben über einen literarischen Text
(fiktionalen Text), das einfach aus dem "hohlen Bauch" kommt, auch nicht der
Weisheit letzter Schluss. Allerdings kann, wenn man es richtig macht, das
Äußern spontaner Leseeindrücke der Einstieg in das tiefere Verstehen des
Textes sein, den Weg zur Anwendung des so genannten hermeneutischen Zirkels
öffnen.
Gert Egle. zuletzt bearbeitet am:
26.12.2023