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Themenbereich:
Unfallgaffer
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Was hat Facebook mit Unfallgaffern zu tun?
Nicht selten geschieht es am
helllichten Tag mitten unter uns.
So hat in München vor geraumer Zeit ein Vergewaltigungsversuch in einem Park
inmitten eines Wohngebiets stattgefunden. Am Freitag Vormittag um zehn Uhr
in der Grünanlage wurde eine 40-jährige Frau von einem Mann gewaltsam zu
Boden gerissen, mit einem Fleischermesser bedroht, um die Frau zu
vergewaltigen. Um ein Haar konnte die Frau - mit einem gezielten Kniestoß -
sich aus der Gewalt des Mannes befreien und mit ihren Verletzungen an Hals
und Unterarm fliehen. Auch in diesem Fall gab es Passanten, die das
Geschehen beobachtet haben und untätig geschehen ließen.
Erschütternd das Ganze, aber nicht unerklärlich. Dass Zeugen immer wieder
Straftaten und Unfälle beobachten, den Betroffenen aber nicht zu Hilfe
eilen, hat sogar in der Wissenschaft schon einen Namen. "Bystander-Effekt"
nennt man dieses tatenlose Zusehen, das es in aller Herren Länder gibt. Der
schlimmste Fall vielleicht hat sich in den sechziger Jahren in New York
ereignet. Dort wurde unter den Augen von 38 (!) Nachbarn eine zwanzigjährige
junge Frau über eine halbe Stunde lang durch ihr Wohnviertel "gejagt", ehe
sie mit brutalen Messerstichen ermordet wurde. Dieses grausame Verbrechen
vor den Augen untätiger Zeugen rief Soziologen und Psychologen auf den Plan,
die sich über die Ursachen dieses untätigen Zuschauens Gedanken machten. Für
Dagmar Stahlberg, die sich an der Universität Mannheim als Professorin für
Sozialpsychologie mit diesen Fragen beschäftigt, gilt auch heute noch, was
als Ergebnis dieser Forschung in den siebziger Jahren nüchtern festgehalten
wurde: "Je mehr Zeugen anwesend sind, desto geringer ist die
Wahrscheinlichkeit, dass einer von ihnen eingreift."
Dieses Verhalten lässt sich auf verschiedene Gründe zurückführen. In der
Menge kann man untertauchen und seine ureigene individuelle Verantwortung
wegschieben nach dem Muster: "Es sind ja so viele andere da, sollen die doch
erstmal etwas machen." Dann kommt hinzu, dass viele sich bei der Beurteilung
einer solchen Situation völlig unsicher und überfordert fühlen: "Handelt es
sich hier tatsächlich um eine verbrecherische Gewalttat oder ist es "nur"
eine handfeste Auseinandersetzung unter Bekannten?" Dass solche Gedanken
einem Eingreifen im Wege stehen, ist unverkennbar. Noch schwerer wiegt
freilich wohl die Angst, aus der Masse herauszutreten, sich vor einem
größeren Publikum zu exponieren und unter den Augen der anderen eventuell
Fehler zu machen. Und da fällt es dem einzelnen eben nicht leicht, binnen
Sekunden zu entscheiden, ob er seine sichere Position eines Unbeteiligten
für einen Ausgang mit ungewissem Ende aufgeben soll. Helmut Rüster, der
Sprecher des Weißen Ring, eines gemeinnützigen Vereins zur Unterstützung von
Kriminalitätsopfern und zur Verhütung von Straftaten, geht noch weiter: "In
erster Linie ist das eine zunehmende Gleichgültigkeit." Und nicht zuletzt
halte die falsche Annahme von Nothelfern, sie müssten für mögliche
gesundheitliche oder wirtschaftliche Schäden selbst aufkommen von der
dringend nötigen Hilfeleistung ab. Das Gegenteil sei der Fall. "Der
Nothelfer wird zum Teil sogar großzügiger entschädigt als das Opfer der
Straftat", erklärt Rüster in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung,
denn "er bekommt zum Beispiel auch Sachschäden ersetzt."
Grundsätzlich hängt die
Bereitschaft, dies zu tun, auch von der wahrgenommenen "Schwere" des
Vorfalls ab. Allerdings, so räumt Rüster ein, kann es u. U. auch daran
liegen, dass es die Opfer den potenziellen Helfern nicht unbedingt leicht
machen. Sie müssten nämlich zunächst einmal selbst ihre Notsituation klar
erkennen. Auf keinen Fall sollten sie sich schämen, laut um Hilfe zu rufen.
Und doch ist auch bei einem solchen Verhalten der Opfer der Zuschauer nicht
aus dem Schneider. So fordert der Sprecher des Weißen Ring: " Der Helfende
sollte nicht nur zusehen und abwarten, sondern den Betroffenen fragen,
ob er Hilfe braucht, und sie ihm ummissverständlich anbieten."
Handelt es sich um leichtere Unfälle z. B. ist, so hat man
ermittelt, etwa ein Drittel der vorhandenen Zuschauer bereit, aktiv zu
werden. Ganz anders aber sieht es aus, wenn es um schwere Verkehrsunfälle
oder Gewaltverbrechen geht, sinkt diese Zahl gewaltig. Nach Ansicht des
Bochumer Psychologen Hans-Werner Bierhoff, haben die meisten eben Angst,
selbst dorthin zu rücken, wo Gefahren lauern. Bierhoff: in der Süddeutschen
Zeitung vom 22.03.2000: "Wird nicht impulsiv eingegriffen, so sofort
ohne vorherige Kosten-Nutzen-Abwägung, nimmt die Wahrscheinlichkeit des Zu-Hilfe-kommens schnell ab."
Natürlich haben viele Zuschauer einfach auch kein Vertrauen in ihre eigenen
Fähigkeiten in einer solchen Situation. Wobei dabei, das hat Bierhoff
festgestellt, zwischen Männern und Frauen deutliche Unterschiede sichtbar
sind. "Frauen", so meint er, "schätzen ihre Kompetenz vorsichtiger ein." Bei
seinen Untersuchungen jedenfalls hätte nur knapp ein Fünftel der weiblichen
Befragten im Notfall eingegriffen, während eine solche Einsatzbereitschaft
von vier Fünfteln der befragten Männer angegeben wurde.
Dabei ist es nach Ansicht des Psychologen Bierhoff gar nicht so, dass der
Wille zu helfen nicht groß sei, aber die praktische Umsetzung sei das
eigentliche Problem.
In der Polizeistatistik schlägt sich indessen offenbar keine Zunahme von
Fällen nieder, bei denen das Zuschauer-Phänomen eine Rolle gespielt hat. Was
man allerdings übereinstimmend festhält, ist die Tatsache, dass sich die
Medien und damit die Öffentlichkeit in den letzten Jahren einfach mehr dafür
interessiert.
Wenn es allerdings keinen signifikanten Anstieg des Zuschauer-Phänomens
gibt, kann es auch nicht so ohne weiteres als Beleg für den vielerorts
betonten Werteverfall oder die wachsende Anonymisierung in der
Massengesellschaft herhalten.
Ob Zunahme oder nicht, entscheidend bleibt allerdings, und das schon im
Interesse der Opfer, dass unterlassene Hilfeleistung von unserer
Gesellschaft nicht einfach hingenommen wird. "Jemand, der Hilfe vorsätzlich
unterlässt, steht mit einem Bein im Gefängnis", sagt Helmut Rüster vom
Weißen Ring. Denn "Unterlassene Hilfeleistung" ist ein Straftatbestand. Das
Strafgesetzbuch (§123): "Wer bei Unglücksfällen oder gemeiner Not nicht
Hilfe leistet, obwohl dies erforderlich und ihm den Umständen nach zuzumuten
ist - insbesondere ohne erheblich eigene Gefahr und ohne andere wichtige
Pflichten zu verletzen - wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit
einer Geldbuße bestraft." Wegsehen ist strafbar und das ist auch gut so.
Wenn jemand durch ein plötzlich eintretendes Ereignis klar erkennbar in Not
gerät, muss ihm geholfen werden, auch dann wenn er sich selbst unabsichtlich
in eine Notlage gebracht hat. Wer bei Vergewaltigungen und gefährlichen
Körperverletzungen wegschaut, kann nicht anders behandelt werden, als ein
Schwimmer, der einen um Hilfe rufenden Ertrinkenden untergehen lässt.
Natürlich muss in den ersten Fällen niemand einen Helden spielen, aber
verlangt werden muss, dass Hilfe organisiert wird. Der Täter jedenfalls darf
sich nicht in Sicherheit wähnen.
Auf der anderen Seite reicht
der Wink selbst mit dem Strafrecht kaum aus, um dem "Bystander-Effekt"
beizukommen. Die potenziellen Helfer und Helferinnen von morgen müssen
Unterstützung bekommen dabei, in solchen Situationen Verantwortung zu
übernehmen. Gefragt sind Trainings schon in der Schule im Rahmen der
Gewaltprävention, gefragt sind aber auch die Medien. Wenn es vorkommt, dass
Lehrerinnen und Lehrer, die zur Pausenaufsicht eingeteilt sind, wegsehen,
wenn sich Gewalt zeigt, dann muss dies Konsequenzen haben. Die Medien aber sollten sich nicht
nur sensationshungrig spektakulärer Berichterstattung widmen, sondern ebenso
aufzeigen, wie sich der einzelne Zuschauer, der in seiner Angst erstarrt,
aus dieser Situation befreien kann.
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