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Parallelkonspekt zum Text
Das System der Rhetorik ist in allen wesentlichen Zügen bereits in der
Antike (Aristoteles,
Cicero,
Quintilian) entwickelt worden und in dieser
Form bis heute Grundlage der
Allgemeinen und der
Angewandten
Rhetorik. Die
theoretischen Voraussetzungen fußen auf der anthropologischen Annahme der
Redefähigkeit als einer allgemein menschlichen Naturanlage (natura), die
durch Kunst und Wissen (ars, doctrina) sowie durch Erfahrung und Übung (exercitatio)
vervollkommnet werden kann. Der rhetorische Unterricht besteht in der
Aneignung des rhetorischen Wissens (doctrina), der Nachahmung
exemplarischer Vorbilder (imitatio) mit dem Ziel, sie zu übertreffen (aemulatio),
und der praktischen Einübung (declamatio). Die Produktionsstadien der
Rede bilden das wichtigste systematische Einteilungsprinzip der Rhetorik.
Am Anfang steht 1. die Erkenntnis des Themas, seine Zuordnung zu einer der
drei klassischen Redegattungen, Gerichtsrede, Politische Rede, Festrede,
und das Auffinden aller zur wirkungsvollen Behandlung des Gegenstands
nötigen Argumente und Materialien (inventio). Zu deren Erforschung hat
die Rhetorik ein eigenes System von Suchkategorien (Topik) ausgebildet,
die personen- oder problembezogen alle möglichen
Fundorte für Argumente,
Beweise oder sonstige Belege erschließen. Das 2. Arbeitsstadium regelt
nach bestimmten Mustern die Gliederung des Stoffes (dispositio) unter den
leitenden Aspekten der Sachangemessenheit, der Überzeugungsherstellung
beim Hörer/Leser und der vier Redeteile. Diese bestehen aus Einleitung (exordium),
Darlegung des Sachverhalts (narratio), Argumentation und Beweisführung (argumentatio),
schließlich dem Redeschluss (conclusio, peroratio). Das 3. Arbeitsstadium
umfasst die sprachlich-stilistische Produktion der Rede gemäß der
Theorie des rednerischen Ausdrucks (elocutio), die das differenzierteste
Teilgebiet der Rhetorik ausmacht. Es umfasst die Figuren und
Tropen
sowie
den Wortgebrauch und die Satzfügung, soweit diese nicht grammatischen,
sondern stilistisch-rhetorischen Zwecken dienen. Sprachrichtigkeit,
Deutlichkeit, Angemessenheit an Inhalt und Zweck der Rede, Redeschmuck und
Vermeidung alles Überflüssigen sind die obersten Stilqualitäten. Um
allen Wirkungsintentionen zu entsprechen, hat die Rhetorik zum Teil sehr
komplizierte Stillehren entwickelt, doch allein die wohl auf
Theophrast
zurückgehende Dreistillehre hat sich durchgesetzt und beherrschte die
Geschichte der europäischen Beredsamkeit und Literatur bis ins 19. Jh.
Sie unterscheidet die schlichte, schmucklose, sowohl dem belehrenden Zweck
wie der alltäglichen Kommunikation angepasste Redeweise von einer auf
Unterhaltung und Gewinnung der Zuhörer ausgerichteten Stilart, die sich
des Redeschmucks auf eine temperierte Weise bedient und eine sympathische
Beziehung zwischen Redner und Publikum herstellen soll; von diesen beiden
abgesetzt wird schließlich die großartige, pathetisch-erhabene
Ausdrucksweise, die alle rhetorischen Register zieht und die Zuhörer
mitreißen will. Sie ist besonders handlungsbezogen und zielt auf
Entscheidung und praktische Veränderung aufgrund der zuvor durch
Darlegung und Argumentation erreichten Einstellungsveränderung oder
-sicherung. Im 4. Stadium konzentriert sich der Redner auf das Einprägen
der Rede ins Gedächtnis (memoria) mittels mnemotechnischer Regeln und
bildlicher Vorstellungshilfen. Das 5. und letzte Produktionsstadium
besteht in der Verwirklichung der Rede durch Vortrag (pronuntiatio),
Mimik, Gestik und sogar Handlungen (actio). Diesen Anforderungen
entsprechend entwickelte die Rhetorik eine ausgefeilte Sprechtechnik, die
körperliche Beredsamkeit und in neuerer Zeit die Rhetorik der
Präsentation, deren besondere Aufgabe die wirkungsbezogene Vorführung
von Gegenständen und die Gestaltung des gesamten Ambientes der Rede ist.
In Dekoration, Design und moderner Verkaufsrhetorik hat die Rhetorik der
Präsentation heute ihre wichtigsten Anwendungsbereiche. In diesem letzten
rhetorischen Arbeitsstadium liegt auch der Ursprungsort der Schauspieler-
und Theatertheorien sowie der "gesellschaftlichen Beredsamkeit",
wie
A. v. Knigge seine Kunst des "Umgangs mit Menschen" nannte.
(Text übernommen mit freundlicher Genehmigung des Autors)
Seminar
für Allgemeine Rhetorik
Wilhelmstraße 50 72074 Tübingen