Gut, wenn du dir Klarheit über
diese Frage verschaffen willst. Andernfalls macht es ja schließlich auch
nicht viel Sinn, sich über so eine Sache den Kopf zu zerbrechen. Schauen wir
uns das Ganze also noch einmal ganz allgemein an.
Bestimmt hast du schon
einmal eine ähnlich Geschichte, wie die folgende erzählt bekommen:
"Als ich zum ersten Mal einen Jungen oder ein Mädchen geküsst habe, war
ich so ungefähr 13 Jahre alt. Klar, damals hatte ich echt noch keine
Ahnung von dem Ganzen, ich war einfach noch zu schüchtern, wusste ja nicht
einmal, wo man die Nasen beim Küssen eigentlich hintun sollte. Heute macht
mir aber keiner mehr was vor. Am letzten Schultag vor den Sommerferien bin
ich, wie eigentlich immer hinter Saskia her nach Hause gegangen. Bis
dahin haben wir auf dem Nachhauseweg nie miteinander geredet. An diesem
Tag blieb sie einfach irgendwo stehen, drehte sich um und quatschte mich
an. Sofort bin ich knallrot geworden, das könnte mir heute nie mehr
passieren. »Willst du mit mir gehen?" fragte sie mich ganz direkt. Ja, und
dann ..."
Wäre es hier nicht interessant, wenn du herausbringen könntest, ob dieser
"coole" Junge heute wirklich so abgeklärt ist, wie er sich darstellen will.
Warum plustert er sich eigentlich so auf, wenn er sagt, heute mache ihm
keiner mehr was vor in solchen Dingen, oder wenn er, um nur im Hier und
jetzt nicht blöd dazustehen, schnell einwirft, heute würde er mit Sicherheit
nicht mehr rot werden? Warum stellt der Sprecher sich selbst in jüngeren
Jahren so dar? Warum spricht er denn überhaupt darüber? - Im normalen Leben
tun wir oft viel dafür, das Geheimnis zu lüften, lassen uns eben nicht gerne
ein X für ein U vormachen. Hier spüren wir heraus, was los ist, und
stellen ganz schnell Vermutungen darüber an, warum sich jemand so darstellt.
Spricht man über sich aus einem zeitlichen Abstand heraus, kann man die
Dinge anders sehen, anders beurteilen und anders darstellen, als man das in
der jeweiligen Situation gemacht hätte. Und diese unterschiedlichen Ichs,
die dabei eine Rolle spielen, das Ich von damals und das Ich von heute
stehen in einem Spannungsverhältnis zueinander, das man so oder erleben und
beeinflussen kann.
Um nichts anderes geht es bei der Frage nach dem Verhältnis von
erzählendem (= sich erinnernden) Ich
und
erlebenden (= erinnerten) Ich
im Roman von
Bernhard Schlink. Da kommt der fünzigjährige Michael Berg
an und erzählt, was er in seiner Jugend erlebt hat, versucht immer wieder,
in die Rolle des Fünfzehnjährigen (oder sonst jüngeren Ichs) zu schlüpfen,
um die Geschichte so zu erzählen, wie sie "wirklich" war.
-
Wie macht er das aber?
-
Was wählt er aus?
-
Wie bewertet er als
Fünfzigjähriger, was er sich schreibend in Erinnerung ruft, und warum
bewertet er es überhaupt?
-
Wie sieht der das Ganze und
seine Teile im Nachhinein?
-
Stimmt überhaupt, was er am
Ende des Romans über sein Verhältnis zu dieser Geschichte mit Hanna und
ihrer Bedeutung für sein Leben sagt?
-
Und wenn ja, wo lässt es sich
zeigen und am Text belegen, wenn nein, wo der Gegenbeweis führen?
-
...
Das genau sind solche Fragen, deren Geheimnis du lüften musst, wenn du
dich mit dem erzählenden und erlebenden Ich in
Bernhard Schlinks Roman »Der Vorleser« befassen willst
(vgl. Erzählperspektive im "Vorleser").
Und natürlich musst du dabei nicht dem ganzen Roman durchforsten und
jede Textstelle dem einen oder anderen Ich zuordnen. Das lässt sich
ohnehin nicht immer zweifelsfrei machen. Aber es gibt Stellen, an denen das
geht, und bei deren Analyse und Interpretation genau das wichtig ist. Das
sind natürlich die "Schlüsselszenen" des Romans, als jene erzählten
Ereignisse, die z. B. während der Affäre von Hanna und Michael eine
besonders herausragende Bedeutung haben.
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
18.05.2024