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FAQ's: Bernhard Schlink, Der Vorleser

Was bringt eigentlich die Unterscheidung von erzählendem und erlebendem Ich?


Gut, wenn du dir Klarheit über diese Frage verschaffen willst. Andernfalls macht es ja schließlich auch nicht viel Sinn, sich über so eine Sache den Kopf zu zerbrechen. Schauen wir uns das Ganze also noch einmal ganz allgemein an.

Bestimmt hast du schon einmal eine ähnlich Geschichte, wie die folgende erzählt bekommen: 

"Als ich zum ersten Mal einen Jungen oder ein Mädchen geküsst habe, war ich so ungefähr 13 Jahre alt. Klar, damals hatte ich echt noch keine Ahnung von dem Ganzen, ich war einfach noch zu schüchtern, wusste ja nicht einmal, wo man die Nasen beim Küssen eigentlich hintun sollte. Heute macht mir aber keiner mehr was vor. Am letzten Schultag vor den Sommerferien bin ich,  wie eigentlich immer hinter Saskia her nach Hause gegangen. Bis dahin haben wir auf dem Nachhauseweg nie miteinander geredet. An diesem Tag blieb sie einfach irgendwo stehen, drehte sich um und quatschte mich an. Sofort bin ich knallrot geworden, das könnte mir heute nie mehr passieren. »Willst du mit mir gehen?" fragte sie mich ganz direkt. Ja, und dann ..."

Wäre es hier nicht interessant, wenn du herausbringen könntest, ob dieser "coole" Junge heute wirklich so abgeklärt ist, wie er sich darstellen will. Warum plustert er sich eigentlich so auf, wenn er sagt, heute mache ihm keiner mehr was vor in solchen Dingen, oder wenn er, um nur im Hier und jetzt nicht blöd dazustehen, schnell einwirft, heute würde er mit Sicherheit nicht mehr rot werden? Warum stellt der Sprecher sich selbst in jüngeren Jahren so dar? Warum spricht er denn überhaupt darüber? - Im normalen Leben tun wir oft viel dafür, das Geheimnis zu lüften, lassen uns eben nicht gerne ein X  für ein U vormachen. Hier spüren wir heraus, was los ist, und stellen ganz schnell Vermutungen darüber an, warum sich jemand so darstellt. Spricht man über sich aus einem zeitlichen Abstand heraus, kann man die Dinge anders sehen, anders beurteilen und anders darstellen, als man das in der jeweiligen Situation gemacht hätte. Und diese unterschiedlichen Ichs, die dabei eine Rolle spielen, das Ich von damals und das Ich von heute stehen in einem Spannungsverhältnis zueinander, das man so oder erleben und beeinflussen kann.

Um nichts anderes geht es bei der Frage nach dem Verhältnis von erzählendem (= sich erinnernden) Ich und erlebenden (= erinnerten) Ich im Roman von Bernhard Schlink. Da kommt der fünzigjährige Michael Berg an und erzählt, was er in seiner Jugend erlebt hat, versucht immer wieder, in die Rolle des Fünfzehnjährigen (oder sonst jüngeren Ichs) zu schlüpfen, um die Geschichte so zu erzählen, wie sie "wirklich" war.

  • Wie macht er das aber?

  • Was wählt er aus?

  • Wie bewertet er als Fünfzigjähriger, was er sich schreibend in Erinnerung ruft, und warum bewertet er es überhaupt?

  • Wie sieht der das Ganze und seine Teile im Nachhinein?

  • Stimmt überhaupt, was er am Ende des Romans über sein Verhältnis zu dieser Geschichte mit Hanna und ihrer Bedeutung für sein Leben sagt?

  • Und wenn ja, wo lässt es sich zeigen und am Text belegen, wenn nein, wo der Gegenbeweis führen? 

  • ...

Das genau sind solche Fragen, deren Geheimnis du lüften musst, wenn du dich mit dem erzählenden und erlebenden Ich in Bernhard Schlinks Roman »Der Vorleser« befassen willst (vgl. Erzählperspektive im "Vorleser").

Und natürlich musst du dabei nicht dem ganzen Roman durchforsten und jede Textstelle dem einen oder anderen Ich zuordnen. Das lässt sich ohnehin nicht immer zweifelsfrei machen. Aber es gibt Stellen, an denen das geht, und bei deren Analyse und Interpretation genau das wichtig ist. Das sind natürlich die "Schlüsselszenen" des Romans, als jene erzählten Ereignisse, die z. B. während der Affäre von Hanna und Michael eine besonders herausragende Bedeutung haben.

 
        
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