|
Viele Menschen sind der Ansicht, dass die
Parteien sich im
politischen System der Bundesrepublik
Deutschland zu breit aber vor allem zu bequem gemacht haben.
Dabei wird den Parteien nachgesagt, dass sie sich am Staat gerade so
bedienen, wie es ihnen gefällt.
Kein Wunder also, dass es vielen schlicht zu viel ist, wenn die Parteien
in allen Fragen des gesellschaftlichen Lebens mitmischen. Sie
ärgern sich darüber, wenn sich die Parteien im Staat bis hin zu
Behörden- und Schulleitern Posten und Pöstchen zuschieben (vgl.
Rudzio 2015,
Kap. 4.1) und den Staat wie einen Selbstbedienungsladen behandeln.
Und an Berichten und Reportagen darüber, wie die Parteien sich den
Staat, z. B. mit der staatlichen Parteienfinanzierung, zur Beute machen,
mangelt es in den Medien, die gerne mit dem Finger auf den wuchernden
Parteienfilz zeigen, ohnehin nicht.
So gesehen ist für viele Bundesbürger unser Staat nichts anderes als ein
Parteienstaat. In ihren Köpfen ist der Begriff eindeutig negativ
besetzt.
Die wissenschaftliche Sicht: Kein ausgeprägter Parteienstaat
Spricht man in der Wissenschaft vom Parteienstaat, muss der Begriff
klarer umrissen werden. Allerdings gibt es auch da keine verbindliche
Definition. Genau so wenig einhellig ist die Ansicht, ob man im Fall der
Bundesrepublik Deutschland überhaupt von einem Parteienstaat sprechen
kann.
- Weil die
Parteien das öffentliche Leben und die staatlichen Institutionen völlig durchdringen,
macht der Begriff des Parteienstaats für die einen durchaus Sinn.
Dabei wird betont, dass der Begriff schließlich nicht grundsätzlich
abwertend gebraucht werden müsse. Schließlich hätten auch die Väter
des Grundsgesetzes den Parteienstaat "als ein positives Gut
verstanden." (Hartmann
2004, Kap. 6.1)
- Andere halten dagegen und kommen nach der Untersuchung einer
ganzen Reihe von Gesichtspunkten zum Schluss, dass das politische
System der Bundesrepublik Deutschland "zwar parteienstaatliche Züge
(trägt), ohne doch im vollen Sinne Parteienstaat zu sein." (Rudzio
2011, S.107, Hervorh. d. Verf.)
Dabei stützt man sich auf folgende Befunde:
- Trotzdem die Parteien in der Verfassung erwähnt sind, werden
sie eben nicht zu Staatsorganen erhoben.
- Auch wenn bei Wahlen vor allem Parteien gewählt werden,
werden manche Wahlen, wenn es um bestimmte Grundfragen geht wie
z. B. die Energiewende heute oder früher die Wiederbewaffnung
1952, die Ostpolitik 1970-72, die Wiederherstellung der
deutschen Einheit 1989/90 oder in Zukunft vielleicht die Frage
nach der Mitgliedschaft in der EU oder die Haltung zur
Flüchtlingsmigration auch immer wieder zu einer Art Plebiszit,
ohne eigentlich Volksabstimmung i. e. S. zu sein.
- Parteien sind nur einer, wenngleich ein sehr bedeutsamer
Akteur auf dem Feld der politischen Willensbildung im
politischen System.
- Parteibeschlüsse sind wegen des freien Mandats der
Abgeordneten in ihrer Verbindlichkeit beim Abstimmungsverhalten
von Abgeordneten eingeschränkt.
- Wer politische Verantwortung in Deutschland übernehmen will,
hat meistens eine Parteikarriere hinter sich.
- Der öffentlich Dienst ist zwar sehr tief von
"Parteibuchwirtschaft" (von Arnim) durchdrungen, aber das
Prinzip des Berufsbeamtentums führt dazu, dass nicht alle
Staatsdiener nach Parteibuch ausgesucht und nach Gutdünken
ausgewechselt werden können.
- Die Parteien finanzieren sich zwar zu annähernd 50% aus
Staatsmitteln (staatliche Parteienfinanzierung), aber immerhin
werden die Mittel nach der Anzahl errungener Wählerstimmen, also
auf der Basis gesellschaftlicher Unterstützung verteilt. (vgl.
Rudzio
2015, Kap. 4.1)
So gesehen, könnte man also dann von einem regelrechten Parteienstaat
sprechen, wenn
-
Parteien Staatsorgane
wären
-
bei Wahlen nur Parteien
mit ihren Programmen zur Wahl stünden
-
Parteien allein die
politische Willensbildung organisieren würden
-
Parteibeschlüsse auch für
das Abstimmungsverhalten von Abgeordneten verbindlich wären
-
politische Ämter einzig
und allein über die Parteien erlangt werden könnten
-
die Angestellten und
Beamten des Staates nach Parteiwillkür ausgesucht und abgesetzt
werden könnten
-
die Finanzierung der
Parteien ausschließlich aus Steuergeldern erfolgen würde und vom Bezug zur Anzahl
ihrer Wähler abgekoppelt wäre
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
20.07.2016
|
|