Was sich in Maria vor und während der Hinrichtung
vollzieht, hat mit dem in den vier vorhergehenden Aufzügen breit
entwickelten Ablauf des Schicksals kaum mehr einen inneren Zusammenhang.
Der Tod trifft nur den physischen Teil Marias, er berührt nicht mehr
ihr intelligibles Wesen, das für ihn unerreichbar bleibt; seine Tragik ist
aufgehoben. Wo der erhabene Mensch sich vor dem Schicksal, wenn auch mit
Hilfe des Schuld-Sühne-Zusammenhangs, in die Freiheit der Geister
»flüchtet«, ist die Tragödie entmächtigt. Beim Eintritt des Verhängnisses
tut der Held den geistigen Sprung auf eine Höhe, von der aus jede
Katastrophe als ein äußerliches Schauspiel verpufft, ohne den Helden zu
vernichten.
In Maria Stuart wird die Gefahr der idealistischen Anschauung für
die Tragödie besonders deutlich. Die Tragödie wird nicht zum Fest des
Lebens, das gerade in der Vernichtung des großen Einzelnen seine
übermenschliche Macht bekundet; sie wird vielmehr zum Triumph der Idee,
die nur leuchten kann, wenn die sinnliche Hälfte der Existenz als wertlos
überwunden ist. Das physische Dasein spielt in dem Läuterungsprozess des
zu verklärenden Helden wohl die Rolle des Verführers zur Schuld, und damit
wiederum wird es der Anlass zur erhebenden Sühne, doch ist es an sich
bedeutungslos, es hat keine metaphysische Wirklichkeit. [...]
Wenn Schiller in seinem Aufsatz Ȇber
das Erhabene« meint, das Erhabene mache sich »um
den reinen Dämon« in uns verdient, so versteht er hier unter dem von
Goethe übernommenen antiken Begriff das christliche Gegenteil, nämlich den
weltlosen, der reinen Idee verpflichteten Geist, während bei Goethe der
Dämon das natur- und welthafte, unzerstörbare Wesen in seiner
menschlich-seelischen Verdichtung und einmaligen Prägung ist. Aus
diesem Dämon lebt Maria Stuart, als sie während der über Leben und Tod
entscheidenden Unterredung mit Elisabeth aus den Tiefen ihres Wesens sich
stolz erhebt und der Wallung ihrer empörten Seele keinen Zwang anlegt. In
diesem Augenblick ist sie dämonisch groß, gerade weil sie sich nicht »nach
dem Gesetzbuch reiner Geister« richtet, sondern nach der Stimme ihres
Blutes und Herzens. Den »reinen Dämon« im Sinne Schillers aber zeigt die
erhabene Maria, die wie »ein schön verklärter Engel« sich dem Reiche
Gottes zuwendet, »wo keine Schuld mehr sein wird und kein Weinen«. Dieses
Nebeneinander des heidnisch-naturhaften und christlich-geistigen Dämons in
einem Drama erweist den Riss, der durch das Werk Schillers geht und seinen
Kampf um die Tragödie bestimmt."
(Ibel
1943, zit. n. Ibel, 9. Aufl, 1982,
S.63f.)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
16.12.2023