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Schlink, Der Vorleser - 1. Teil

Let's talk about sex

Die Affäre von Hanna und Michael und die Schwierigkeiten, über Sex zu reden

 
 
 

Im ersten Teil des Romans »Der Vorleser« spielt das sexuelle Reifen des Ich-Erzählers Michael Berg eine große Rolle. Aus der Sicht des erzählenden (sich erinnernden) Ichs "(arrangieren) Sehnsüchte, Erinnerungen, Ängste, Lüste (...) Labyrinthe" (1997, S.20), in denen er als junger Mann von 15 Jahren "verloren" gewesen ist.
Insbesondere seine sexuellen Phantasien machen dem erlebenden (= erinnerten) Erzähler-Ich zu schaffen:
"Ich wachte jeden Morgen mit schlechtem Gewissen auf, manchmal mit feuchter oder fleckiger Schlafanzughose. Die Bilder und Szenen, die ich träumte, waren nicht recht. [...] Besonders unrecht war, dass ich die Bilder und Szenen, wenn ich sie nicht passiv träumte, aktiv phantasierte." (1997, S. 20)

Sexualität ist ein wichtiges Thema des Romans. Doch wie sprechen die Figuren über Sexualität? Und wie spricht man eigentlich über Sexualität?

Text 1:
Ficken, vögeln, Liebe machen
Der Sexualkundler Norbert Kluge in einem Interview zu seiner Studie zur Sexualsprache der Deutschen

DIE WOCHE Herr Professor Kluge, Sie haben 1500 Deutsche gefragt, wie sie über Sex reden. Welche Wörter gebrauchen Sie selbst?
NORBERT KLUGE Ich selbst finde, wie die meisten, keine gescheiten Ausdrücke. Ansonsten ist es mir völlig gleich, wie die Leute reden, Hauptsache, sie reden überhaupt darüber. Wenn zum Beispiel ein Kind im Gerichtssaal sagt "Ich bin gevögelt worden", darf es auf keinen Fall ausgeschimpft werden. Sehen Sie, egal ob wir Kinder über sexuellen Missbrauch befragen oder Teenager vor ungewollten Schwangerschaften schützen wollen: Wir müssen Klartext reden. Ich bin erschüttert, wenn Richter und sogar die angehenden Lehrerinnen, die wir hier ausbilden, immer noch von "da unten" reden anstatt die Geschlechtsorgane beim Namen zu nennen. […]
DIE WOCHE Warum reden die Deutschen, wenn es um Sex geht, immer drumrum?
KLUGE Das hat mit dem Tabugebot zu tun, da kommen wir so schnell nicht raus. Aber es tut sich was. Wörter, die früher als schmutzig galten, werden langsam salonfähig. "Eier" statt "Hoden" zum Beispiel, das gehört für junge Leute schon zur Standardsprache. Ein Beweis für die Dynamik von Sexualsprache.

(aus: Die Woche, 9.5.97 Interview:Ursula Ott)

Text 2:
Let’s talk about sex – aber wie?

Sexualität ist ein Tabuthema und darum wird das Reden darüber nicht gelernt nicht in der Schule, kaum in der Familie, meistens noch nicht einmal mit dem Menschen, mit dem Sexualität gelebt wird. […]
Das angestrengte Vermeidenwollen, über Sexualität zu sprechen, behindert sicherlich. Wie allerdings über Sexualität gesprochen wird, dafür gibt es kein Rezept.
Es wird leise, heimlich, lieblos, laut, oft schüchtern, nur unter Freunden und Freundinnen, medizinisch, falsch, spitz, belehrend, geil, weinend, witzig, gemein, kindisch und kindlich, klug und neunmalklug, protzig und neugierig über und von Sexualität gesprochen.

Es gibt:

  • die ‘neutrale’ Sprache, die von ‘Geschlechtsverkehr’ redet;

  • die Sprache der Verliebten;

  • die romantische Sprache in Gedichten und Romanen;

  • die Modesprache, die Motorräder und knackige Jungenhintern ‘echt geil’ findet;

  • die medizinische, Schulbuch und Aufklärungssprache, die von ‘Vagina’, ‘Penis’, möglicherweise im Zuge der Sexualaufklärung sogar von ‘Oralverkehr’ spricht;

  • die Werbesprache, die empfiehlt, sich einen zu ‘noggern’;

  • die Sprache beim Schimpfen, die jemanden als ‘Arschficker’ oder ‘Fotze’ bezeichnet;

  • die ‘Macker Sprache’, bei der Frauen zu ‘Schnallen’ und ‘Perlen’ werden.

Und dann gibt es noch

die Sprache eines 30-jährigen Vaters, der seiner fünfjährigen Tochter erklärt, wie Kinder gemacht werden;

  • die gemeinsame Sprache des jungen türkisch deutschen Paares, das ihre Liebe geformt hat

  • und viele andere Varianten des Redens von Sexualität.

So, wie mit Worten geschmeichelt und gestreichelt werden kann, kann auch mit ihnen vergewaltigt werden.
Der vollendete Flirt, das Lob, das zärtliche Flüstern finden andere Worte als die Beschimpfung, der Herrenwitz und die Herrschaftssprache.

(aus: U. Sielert, u. Siegfried Keil, Sexualpädagogische Materialien für die Jugendarbeit in Freizeit und Schule, Weinheim und Basel: Beltz-Verlag 1993, S. 35) 
 

 
    
   Arbeitsanregungen:
  1. Eine Schülerin und ein Schüler erhielten den Auftrag, während der Rest der Klasse das ABC ausgefüllt hat, die Affäre von Hanna und Michael allein mit Bildern und Symbolen darzustellen. Verdeckt hinter ihrem Tafelflügel konnten sie dabei ihrer Phantasie freien Raum lassen.

    • Welche Darstellung stammt wohl von einem Jungen, welche von einem Mädchen? Warum?

    • Beschreiben Sie, was auf der Tafel zu sehen ist.

  2. Sprechen und schreiben über Sexualität (z. B. in einem Aufsatz über den Roman "Der Vorleser") ist nicht jedermanns Sache. Daher lohnt es sich einmal grundsätzlich darüber nachzudenken.

    • Welche Meinung vertritt der Sexualwissenschaftlicher Kluge zum Sprechen über Sexualität? (Text 1)

    • Stellen Sie in Rollenspielen zu je zwei SpielerInnnen dar, wie in den im Text 2 genannten Fällen über Sexualität (z.B. Beischlaf, Onanie, Flecken auf der Schlafanzughose, Samenerguß, Penis, Vagina o. ä.) gesprochen wird. Versuchen Sie ihre Sprechweise in Anlehnung an die aufgezählten Adjektive ("leise, heimlich, lieblos, laut, oft schüchtern, nur unter Freunden und Freundinnen, medizinisch, falsch, spitz, belehrend, geil, weinend, witzig, gemein, kindisch und kindlich, klug und neunmalklug, protzig und neugierig" )zum Sprechen über Sexualität zu gestalten

    • Wie ergeht es Ihnen beim Sprechen über Sexualität in verschiedenen Situationen?

    • Wie ergeht es Ihnen beim Sprechen über Sexualität in verschiedenen Situationen?
       

 
     
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