Das •
Thema des
Analphabetismus zählt zu den wichtigsten Themen, die in
• Bernhard Schlinks
Roman »Der Vorleser«
zur Sprache kommen, zumal es auch dem ebenso zentralen
• Thema der Schuld
verknüpft ist.
"Als
»Analphabetismus
bezeichnet man kulturell, bildungs- oder psychisch bedingte
individuelle Defizite im Lesen oder Schreiben bis hin zu völligem
Unvermögen in diesen Disziplinen. Ist dagegen eine ganze Sprach-
oder Kulturgemeinschaft betroffen, was im Laufe des 20. Jahrhunderts
sehr selten geworden ist, spricht man von Schriftlosigkeit, »Mündlichkeitskultur
bzw. Oralität. Das Fehlen einer in einer Kultur verankerten
Lese- bzw. Schreibfähigkeit wird als »
Illiteralität bezeichnet.
Der
Alphabetisierungsgrad der Weltbevölkerung ist in den letzten
Jahrhunderten drastisch gestiegen. Während 1820 nur 12 % der
Menschen auf der Welt lesen und schreiben konnten, hat sich der
Anteil heute umgekehrt: Nur 13 % der Weltbevölkerung sind noch
Analphabeten. In den letzten Jahrzehnten ist die weltweite
Alphabetisierungsquote alle 5 Jahre um etwa 4 Prozentpunkte
gestiegen – von 42 % im Jahr 1960 auf 86 % im Jahr 2015.
In Deutschland
waren 2011 nach einer Studie der Universität Hamburg ca. 4 % bzw. 2
Millionen der Erwachsenen totale, insgesamt 14,5 % bzw. 7,5
Millionen funktionale Analphabeten. 2018 wurde diese Studie
fortgeschrieben: die Gesamtzahlen (Alpha-Levels 1–3) seien auf 12,1
% bzw. 6,2 Millionen zurückgegangen, auf den Alpha-Levels 1 und 2
seien immer noch 4 % der Erwachsenen bzw. 2 Millionen." (Wikipedia.de)
Weltweit gesehen
ist der Analphabetismus, in erster Linie ein Problem der so
genannten Entwicklungsländer.
Jedes Jahr am 8.
September ist Welttag der Alphabetisierung. Auch 2023 hat die
UNESCO
an diesem Tag an die Bedeutung von Alphabetisierung und
Erwachsenenbildung erinnert und entsprechende Daten veröffentlicht.
Danach waren 2023 ca. 770 Millionen Jugendliche und Erwachsene
weltweit nicht in der Lage zu lesen und zu schreiben. Dabei hatte
man sich 2003 noch das Ziel gesetzt, die Zahl von damals weltweit
862 Millionen Analphabeten binnen Zehn-Jahres-Frist zu halbieren.
Corona und weltweite Krisen setzte solchen Ambitionen aber schnell
Grenzen.
Betroffen vom
weltweiten Analphabetismus sind vor allem Frauen, die 2023 ca. zwei
Drittel aller Analphabeten ausmachten. Besonders hoch ist auch die
Zahl der zehn Jahre alten Kinder aus ärmeren Ländern. Die meisten
Analphabeten und Analphabetinnen leben in den neun ärmsten Staaten
der Erde, vor allem in Ländern Asiens, gefolgt von Ländern in Afrika
und in Lateinamerika.
Angesichts
weltweiter Krisen ist die Ungleichheit zwischen den
Weltregionen bei der Alphabetisierung in den vergangenen Jahren
sogar noch größer geworden. So ist in Ländern mit niedrigem und
mittlerem Einkommen der Anteil der zehnjährigen Kinder, die einen
einfachen Text nicht verstehen konnten, von 57 Prozent im Jahr 2019
auf geschätzte 70 Prozent im Jahr 2022 gewachsen.
Wer Analphabetismus allerdings ausschließlich für ein Problem der Dritten
Welt hält, der irrt und wird durch die harten Fakten und durch Studien
schnell eines Besseren belehrt. Auch in Deutschland gibt es viele
Erwachsene ohne ausreichende Lese- und Schreibfertigkeiten: 6,2
Millionen Deutsch sprechende Personen im Alter zwischen 18 und 64
Jahren sind einer
Studie an der Universität Hamburg zufolge hierzulande
Analphabeten. Das ist jeder achte in dieser Altersgruppe. Anders als
weltweit sind in Deutschland Männer mit 58, 4 Prozent die größere
betroffene Bevölkerungsgruppe. Außerdem machen Menschen über 45
Jahre den größeren Teil der Erwachsenen aus, die geringe Fähigkeiten
im Lesen und Schreiben aufweisen.
Das Verständnis davon, was Alphabetisierung bedeutet und umgekehrt
Analphabetismus darstellt, hat sich im Laufe der Zeit beträchtlich
gewandelt.
Derjenige gilt heutzutage als alphabetisiert, der sich an allen
Aktivitäten und Ereignissen seiner Umwelt beteiligen kann, bei denen Lesen,
Schreiben und Rechnen erforderlich sind, und darüber hinaus diese
Kulturtechniken für seine eigene Entwicklung und die seiner Gemeinschaft
nutzen kann. (UNESCO: Statement of the International Commitee of Experts on
Literacy, 1962) Wer alphabetisiert ist, kann demzufolge z. B. Texte lesen
und verstehen, die von allgemeinem Interesse sind, versteht mit
Bedienungsanleitungen und schriftlichen Arbeitsanweisungen umzugehen, kann
Formulare ausfüllen, Automaten bedienen und vieles mehr.
Auch wenn die schon seit nahezu 300 Jahren geltende Schulpflicht – sie wurde
erstmals 1717 in Preußen eingeführt – alle Kinder zum Schulbesuch
verpflichtet, ist damit aber keineswegs garantiert, dass alle Schülerinnen
und Schüler elementare Grundkenntnisse, zu den denen auch das Lesen und
Schreiben gehört, erlernen. Immer noch verlassen Tausende von Jugendlichen
die Schule ohne Hauptschulanschluss.
Aber: ein Schulabschluss allein
garantiert noch lange nicht, dass man ein Leben lang ausreichend lesen und
schreiben kann. Man kann das Lesen und Schreiben nämlich wieder verlernen,
wenn man des nicht ständig übt. Dies ist für die meisten Menschen kein
Problem. Von ihnen wird allerorten schriftsprachliches Handeln verlangt, sei
es im Beruf oder auch im Privatleben.
Wo Bücher und Zeitungen zum Alltag
gehören, wo in Familien durch Vorlesen früh eine enge Bindung und positive
Erwartung an Schriftlichkeit aufgebaut wird, ist die Gefahr für die
Entstehung von funktionalem Analphabetismus vergleichsweise gering. Aber
natürlich gibt es auch andere Fälle. „Wer nur selten liest,“ so ist kann man
der Webseite von APOLL, einem Kooperationsprojekt des Deutschen
Volkshochschul-Verbandes und des Bundesverbands Alphabetisierung e.V.,
entnehmen, „kann in der Folge immer schlechter lesen. Dasselbe gilt für das
Schreiben und hier vor allem für die Handschrift. So ist es zu erklären,
dass in der Schule alphabetisierte Menschen im Laufe ihres Lebens zu
funktionalen Analphabeten wurden.“ (http://www.apoll-online.de, 10.03.04)
Ob und wie gut jemand lesen kann, hängt neben seinen individuellen
Fähigkeiten vor allem von der sozialen Umwelt ab, in der man aufwächst. So
gibt es Menschen, die in einer Umwelt heranwachsen, die von literaler
Abstinenz gekennzeichnet ist. Wer in einer so gearteten sozialen Umwelt
aufwächst, kann häufig grundlegende Kompetenzen zur Lebensbewältigung in
einer schriftsprachlichen Kultur nicht erwerben. Auffällig für die deutsche
Problematik ist freilich, dass „Scheitern im Bildungsprozess und soziale
Herkunft […] noch auffallend eng miteinander verbunden“ sind. Das bestätigen
auch die Biografien von Erwachsenen, die in Volkshochschulen das Lesen und
Schreiben in einem zweiten Anlauf erlernen wollen.“ (ebd.)
Als Folge bleiben die Betroffenen einen Leben lang auf Hilfe angewiesen,
wenn es darum geht, Bedienungsanleitungen zu lesen, Fahrpläne zu studieren
oder Bankautomaten zu nutzen, vom Zeitungslesen oder Internetsurfen ganz zu
schweigen.
Der Begriff des Analphabetismus bezieht sich nicht mehr nur auf individuelle Lese- und Schreibfähigkeiten, sondern auch
auf die sich wandelnden
gesellschaftlichen Anforderungen. Aus diesem Grunde werden vier verschiedene
Formen von Analphabetismus unterschieden:
-
Primärer Analphabetismus
Eine Person verfügt über keinerlei Lese- und Schreibfähigkeit und hat
diese auch niemals erworben.
-
Sekundärer Analphabetismus
Eine Person hat die ehemals erworbenen Lese- und Schreibfähigkeit wieder
verlernt.
-
Funktionaler Analphabetismus
Eine Person verfügt nicht über ein Mindestmaß an Lese- und
Schreibkenntnissen, die zur Lebensbewältigung in beruflicher und privater
Hinsicht in einer Gesellschaft verlangt bzw. benötigt werden.
-
Von
Semi-Analphabetismus wird
gesprochen, wenn Personen zwar lesen, aber nicht schreiben können.
Total-Analphabeten im Sinne des
primären Analphabetismus gibt es heute in Deutschland nur eine geringe
Anzahl.
Die Anzahl derer, die als
sekundäre oder funktionale
Analphabeten bezeichnet werden, beläuft sich nach Schätzungen auf
ca. 4 Millionen. Erst in den siebziger Jahren hat man für diese Formen des
Analphabetismus eine Wahrnehmung entwickelt und versucht, ihnen mit
bildungspolitischen Maßnahmen entgegenzuwirken. Dabei gestaltet sich der
Kampf gerade gegen den funktionalen Analphabetismus als sehr schwierig. Denn
in einer sich ständig wandelnden Industrie-, Wissens- und
Informationsgesellschaft verändern sich auch die Mindestanforderungen
ständig, nehmen tendenziell zu und schaffen damit eine besondere Dynamik.
Wenn es früher einmal gereicht haben mag, seinen Namen schreiben zu können
und einfache Verträge zu lesen, so reicht das heutzutage eben längst nicht
mehr aus, um am Arbeitsplatz oder im privaten Leben bestehen und erfolgreich
handeln zu können.
Grundsätzlich will man mit dem
Begriff des funktionalen Analphabetismus,
der naturgemäß schwierig zu definieren ist, also der Bedeutung
gerecht werden, die der Schriftkultur in der jeweiligen, sich
ständig wandelnden Gesellschaft zukommt.
Das Leben, das funktionale Analphabeten führen, ist ein Leben in Angst vor
der Blamage. Daher neigen sie auch dazu, ihre Defizite mit allen Mitteln zu
kaschieren. (vgl. Hoffmann u. a. 1992, S.60) Sie stehen unter einem enormen
psychischen Druck und investieren einen Großteil ihrer Lebensenergie in die
Inszenierung von Überlebensstrategien.
"Sie ergreifen zumeist eine Arbeit, für die keine weitreichenden Lese- und
Schreibkenntnisse vonnöten sind. Ihren Alltag bewältigen sie meist nur mit
Hilfe des Partners und vollführen wahre Eiertänze, um Situationen zu
vermeiden, die ihre Schwäche offenbaren könnten. Denn als Erwachsene nicht
lesen und schreiben zu können, gilt immer noch als Tabu. So benutzte ein
Betroffener immer den gleichen Zug, weil ihm sowohl die Informationen des
Zugfahrplans als auch die Anzeigetafel verschlossen blieben. Oft wissen
nicht einmal die Angehörigen von der ständigen Angst vor Entdeckung und
Blamage“. (Hilbert, Michaela: Ständig in Angst vor der Blamage, in: Badische
Zeitung 19.4.2000)
Die
Überlebensstrategie der Analphabeten heißt zunächst einmal Vermeiden
von "schriftsprachlichen Anforderungssituationen" (vgl. Döbert/Hubertus 2000, S.
70f.), was sich in verschiedenem Verhalten niederschlägt:
-
Anstehende soziale Situationen werden auf ihre möglichen (schriftsprachlichen)
Anforderungen hin sorgfältig überprüft.
-
Lese- und Schreibaufgaben werden an vertraute Personen delegiert.
-
Plötzlich auftretende (schriftsprachliche) Anforderungssituationen
werden durch ausweichendes Reagieren oder durch Täuschung der Beteiligten
bestanden (Man bestellt z. B. in einem Restaurant das von einem anderen
auf der Speisekarte bestellte Gericht mit.)
Ändern lässt sich der Zustand, in dem sich ein funktionaler Analphabet
befindet, nicht einfach. Denn nicht selten haben sich negative Erfahrungen
mit dem Lesen tief in die Psyche der Betroffenen eingegraben. „Die meisten
schleppen das Trauma ihrer Schulzeit ein Leben lang mit“ berichtet Dieter
Engelbrecht, der im Jahr 2000 einen VHS-Kurs mit dem Titel „Lesen und
Schreiben für Erwachsene“ in Freiburg leitet. (ebd.). Wer also mit seinen
mehr oder weniger gescheiterten Leseversuchen biographisch noch persönliche
Abwertungen erfahren, Strafen erleiden und soziale Ausgrenzung erdulden
musste, ist nicht gerade motiviert neu anzufangen. Denn: „Das Erlernen von
Schrift hat sich dann als negativ konditioniertes Bildungserlebnis ins
Gedächtnis eingeschrieben. Daher eignet sich eine bloße Wiederholung
schulischer Lernstrategien in der Alphabetisierung von Erwachsenen nicht zur
Herstellung positiver Lernerlebnisse.“ (http://www.apoll-online.de,
10.03.04)
Auch wenn niemand heute ernsthaft bestreiten wird, dass Lesen und
Schreiben zu den Grundkompetenzen und elementaren Kulturtechniken gehören, die man zu einer menschenwürdigen
Lebensbewältigung in unserer Gesellschaft benötigt, zeigen manche
Entwicklungstendenzen unserer visuellen Kultur auch in eine andere Richtung.
„Durch die zunehmende Nutzung illiteraler Medien wie Rundfunk, Fernsehen,
Video, Telefon, Handy und Multi-Message-Service wird es immer einfacher,
informiert zu sein, ohne die Last der Lektüre auf sich nehmen zu müssen. Der
Preis für die Dominanz unserer durch Bilder geprägten Welt ist der drohende
Verlust der Schriftkompetenz.“ (ebd.)
Quellen:
-
Döbert, Marion u. Peter Hubertus (2000): Ihr Kreuz ist die Schrift.
Analphabetismus und Alphabetisierung in Deutschland, hrsgg. V.
Bundesverband Alphabetisierung e. V., Münster, Klett, 2000
-
Hilbert, Michaela: Ständig in Angst vor der Blamage, in: Badische
Zeitung 19.4.2000)
-
Hoffmann, Wolfgang u. a. (Hrsg.) (1992): Analphabetismus. Das Recht
auf Lesen und Schreiben für Erwachsene, Frankfurt/M.: Interkulturelle
Kommunikation, 1992
-
http://www.apoll-online.de, 10.03.04
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
30.05.2024