Hofmannswaldau
schrieb ein bekanntes Gedicht "Die Wollust". Blättert man in dem alten Band
von 1679, so entdeckt man das folgende Gedicht "Die Tugend", das genau
dieselbe Länge, dasselbe Versmaß und viele anspielungsreiche
Ausdrucksgleichheiten mit jenem aufweist. Es ist ein Pendant. Sein
"Gegen-Satz". Solches gibt es unzählige Male im
Barock. Es streiten z. B. Mars und Vernus: Taten-Mut und Liebe. Oder
Vergänglichkeitsklage und Ewigkeitshoffnung. Zwei konträre, spiegelbildliche
Gedichte nehmen die Wahrheit zwischen sich in die Schwebe. So wird die
ungesagte Wahrheit, oder die kaum sagbare Wahrheit, dennoch verlautbart, ja
in den höchsten Fällen sogar anschaulich gestaltet. Sie wohnt, wie gesagt,
in der Mitte, doch meistens einem Partner näher. (Gestaltungsweisheit: der
Don Quixote wird durch Sancho, Julia durch die Amme "ergänzt".) Dies gilt -
und auf diesen Analogieschluss kommt es an - nicht nur für Pendant- und
Zyklusstücke, sondern es gilt für die meisten barocken Gedichte, vorzüglich
die meisten weltlichen Gedichte.
(aus: Stöcklein, Paul (1956):
Hofmannswaldau und Goethe: "Vergänglichkeit" im Liebesgedicht, in:
Hirschenauer/Weber (Hg.)1956, S.77-98, h: S.78)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
03.01.2022