Brecht
hat mehrere seiner Parabeln ausdrücklich als Experiment gekennzeichnet
(durch Prologe bzw. Vorspiele: vgl. Der gute Mensch von Sezuan, Der
aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui). Die Analogie zum
naturwissenschaftlichen Experiment stellt sich folgendermaßen her: aus dem
gesellschaftlichen Zusammenleben der Menschen werden bestimmte Vorgänge,
Prozesse herausgehoben und »isoliert« (das heißt: künstlerischen Gesetzen
unterworfen: abgekürzt, konzentriert, »vereinfacht«); Ziel ist es - wie im naturwissenschaftlichen Experiment - das Funktionieren dieser Vorgänge und
damit bestimmte Funktionsprozesse der Gesellschaft, die nicht unmittelbar
zu sehen sind, sichtbar zu machen. Das »Subjektive“ liegt im »Wie« des
»Versuchs-Aufbaus“ und vor allem auch in der künstlerischen Qualität des Sichtbar-Gemachten, den Bildern, den dramatischen oder sonstigen Bildern,
die geschaffen werden für etwas, was unmittelbar nicht zu sehen ist; der
objektive Gewinn ist, dass die subjektiven Bilder der Kunst auf objektive
Prozesse verweisen (Demonstrationscharakter) und Erkenntnis sowie
Bewusstsein davon fördern helfen. Wie z.B. das Atommodell von Ernest
Rutherford nicht beansprucht, das Atom, wie es »wirklich« ist, abzubilden,
so stellt auch der »Versuch« Brechts ein Bild von etwas her, das »normal«
nicht zu sehen ist oder prinzipiell unsichtbar ist; seine »Richtigkeit«
erhält das Modell einzig dadurch, dass es sich im Gebrauch bewährt.[…]
Das Problem des »Realismus« ist damit auf eine ganz andere Ebene als die
der »Widerspiegelung« verschoben: realistisch ist nicht, was möglichst so
aussieht, wie man die Dinge normal vorfindet (»gesunder Menschenverstand«
etc.), das ist vielmehr Naturalismus; an realistische Darstellungen werden
drei Forderungen gestellt: 1. die »Abbildung« muss das Abgebildete in
seinen normalen Aussehen erkennen lassen (aufgehobener Naturalismus), 2.
sie muss das Funktionieren des Abgebildeten demonstrieren (Verfremdung),
3. sie muss künstlerische - dem Abgebildeten adäquate - Bilder für das
Funktionieren finden (Sichtbarmachen des Unsichtbaren); alle drei
Forderungen verbürgen zusammen, dass ästhetischer Genuss (Gefühl) und
intellektuelle Einsicht (Ratio) sich gemeinsam einzustellen vermögen.
(aus:
Knopf 1996, S.407f.)