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Theorien des Selbst
"Wer bin ich?" - Die
Frage nach unserer eigenen Identität
"Wer
bin ich?" ist eine Frage, die wir Menschen uns in dieser oder jener Form
zeitlebens stellen. Je jünger wir sind, desto mehr suchen wir dabei
herauszufinden, was uns als einzelnen Mensch eigentlich ausmacht.
Wir wollen
wissen, was uns als Mensch von unserer Umwelt unterscheidet, wir wollen
erfahren, worin unsere besondere Eigenheit als Mensch im Unterschied zu den
anderen Menschen besteht. Wir wollen ergründen, was die anderen von uns
halten, was wir ihnen bedeuten, kurzum: wie sie uns eigentlich sehen.
So bilden wir uns eine
Vorstellung von uns selbst, gewinnen ein Bild von
uns, das man auch als Identität oder
Selbst bezeichnet. Identität ist dabei "die
ausgewogene Balance zwischen den Ansprüchen des Einzelnen auf
unverwechselbare Einzigartigkeit als Person und den Ansprüchen und
Erwartungen der Gruppe an ihn als Träger von Funktionen und Rollen." (Loeber,
Lerneinheit1994, S.187ff.)
Identität ist also etwas Dynamisches, die Balance zwischen diesen beiden
Polen muss immer wieder aufs Neue hergestellt werden, wenn sie irgendwie aus
den Fugen gerät. Dabei spielt die Entwicklung der Wahrnehmung des eigenen
Selbst (Selbstwahrnehmung) und die
Entwicklung durch die Wahrnehmung anderer (Fremdwahrnehmung)
die entscheidende Rolle.
Was uns dabei beschäftigt, ist die Frage, ob und
inwieweit das Bild, das wir uns von selbst machen, mit dem übereinstimmt,
das andere von uns in der Kommunikation mit uns gewonnen haben. Daraus
beziehen wir wichtige Impulse für unser Selbst, das sich in der
Lebensgeschichte jedes einzelnen Menschen herausbildet.
Im Zuge dieser
Biographie verarbeiten wir Erfahrungen und Erlebnisse, gewinnen
Vorstellungen und Maßstäbe, ordnen das Wahrgenommene Schemata zu und
ergänzen das, was wir bis zu einem bestimmten Zeitpunkt wahrgenommen haben,
durch Neues. Die Art, wie wir also uns und unsere Umwelt wahrnehmen und
beurteilen gehört zu unseren unverwechselbaren Eigenheiten, prägen unser
Empfinden, Denken und Handeln. Je gefestigter unser Selbst dabei wird, desto
leichter können wir im Allgemeinen mit wechselnden emotionalen Zuständen und
sozialen Situationen umgehen.
Überall, wo wir mit Menschen zusammentreffen, machen wir uns Bilder vom
anderen und machen die anderen sich Bilder von uns. Dies geschieht im
Allgemeinen ganz spontan, ohne unser bewusstes Zutun und ohne Steuerung
durch unseren Verstand. Ganz schnell "schließen" wir z. B. oft auf Grund der
körpersprachlichen Signale, die wir während einer Begegnung mit einem
anderen Menschen empfangen, auf dessen seelische Befindlichkeit oder
Absichten, ohne dass unser Verstand sich dabei kühl überlegend zu Wort
gemeldet hätte. Dies hilft uns, mal mehr mal weniger, uns auf kommende
Situationen einzustellen und uns so zu verhalten, wie es die Situation nach
unserer Wahrnehmung erfordert (situationsadäquates Verhalten). Aber nicht
selten kommt es auch vor, dass wir uns mit unseren Annahmen über den anderen
täuschen, das Bild also korrigieren müssen, das wir uns zunächst gemacht
haben. Und häufig zeigen wir uns äußerst verwundert, wenn wir von einem
anderen hören, er habe sich auch von uns ein ganz anderes Bild gemacht, als
wir eigentlich erwartet haben. Nicht selten ein wenig ungläubig nehmen
wir dann zur Kenntnis, dass "zwischen dem eigenen Empfinden in sozialen
Situationen und der Wirkung des eigenen Verhaltens auf andere Menschen (...)
eine Differenz (besteht), die in jeder sozialen Situation neu ausgeglichen
werden muss." (Loeber,
Lerneinheit1994, S.187ff.)
Fremd- und
Selbstwahrnehmung erfahrbar machen: Johari-Fenster
Um was es dabei geht, und wie die einzelnen Aspekte der Selbst- und
Fremdwahrnehmung aufeinander einwirken, kann man mit Hilfe des so genannten
Johari-Fensters verdeutlichen. Das
Modell stammt aus der Gruppendynamik und wird nach den amerikanischen
Sozialpsychologen Joseph (Jo) und Harry (hari) Ingham) bezeichnet. "Es
verdeutlicht, dass »Selbstwahrnehmung« und »Fremdwahrnehmung« sich nicht
entsprechen, sondern dass es Bereiche des Verhaltens gibt, in denen anderen
unbeabsichtigt Mitteilungen über die eigene Person gemacht werden, während
große Bereiche der eigenen Wahrnehmung verborgen bleiben." (Loeber,
Lerneinheit1994, S.187ff.)
Die
vier Bereiche können wir genauer beschreiben:
-
Zum
Bereich A gehört der Teil unseres
Verhaltens, der uns selbst und den anderen Mitgliedern der Gruppe bekannt
ist und in dem uns unser Handeln frei, unbeeinträchtigt von Ängsten und
Vorbehalten erscheint. Hier sind wir quasi die »öffentliche
Person«.
-
Bereich B, der des »Blinden
Flecks«, bezeichnet den Anteil unseres Verhaltens, den wir selbst
wenig, die anderen Mitglieder der Gruppe dagegen recht deutlich
wahrnehmen. Dazu zählen: die unbedachten und unbewussten Gewohnheiten und
Verhaltensweisen, die Vorurteile, Zu- und Abneigungen. Was diesen Bereich
betrifft, können uns die anderen wichtige Hinweise über uns geben.
-
Bereich C umfasst den Bereich unseres
Denkens und Handelns, den wir vor anderen bewusst verbergen - die
»heimlichen Wünsche«, die »empfindlichen Stellen«, quasi die »private
Person«. Durch Vertrauen und Sicherheit zu anderen kann dieser
Bereich erheblich eingegrenzt werden.
-
Bereich D dagegen als Bereich des
Unbewussten weder uns noch anderen im Allgemeinen unmittelbar zugänglich.
Allerdings kann man zu ihm mit Hilfe bestimmter psychologischer bzw.
psychotherapeutischer Methoden (z. B. in der Tiefenpsychologe) Zugänge
finden. (vgl. (Loeber,
Lerneinheit1994, S.187ff.)
Die wichtigste Erkenntnis dabei ist, dass das, was vom Verhalten einer
anderen Person jeweils wahrgenommen wird, nur ein Bruchteil von dem
darstellt, was für diese in einer bestimmten sozialen Situation Bedeutung
hat. Und: Ebenso wenig sind auch dem Einzelnen selbst wesentliche Aspekte
des eigenen Verhaltens nicht bekannt, bewusst oder überhaupt
zugänglich. Vieles davon spielt sich im Bereich des Unbewussten ab (vgl.
▪
Eisbergmodell des Bewusstseins).
Fremd- und Selbstwahrnehmungsprozesse in Gruppen und Teams
Für die
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pädagogische Arbeit in Gruppen
oder die Arbeit
▪
Teams im Allgemeinen haben
diese Überlegungen weit reichende Konsequenzen. Denn wer sich z. B. vor dem
ersten Zusammentreffen kaum kennt, muss sich zunächst einmal über
verschiedene
▪
gruppendynamische Prozesse zu
einer Gruppe oder einem
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gut funktionierenden Team
entwickeln (vgl. u. a.
Rollentypen im Team).
Gerade die Anfangssituationen in einer neu gebildeten Gruppe erzeugen leicht
"eine Situation der Unsicherheit, der Spannung oder gar Angst," die
ungezwungenes, authentisches und freies Verhalten beträchtlich einschränken
kann. (Loeber,
Lerneinheit1994, S.187ff.) Mit Hilfe der Grafik lässt sich dies
verdeutlichen. In einer solchen Situation neigt man dazu, den Bereich des
»freien Handelns« zugunsten des Bereichs des »Verbergens« und des »Blinden
Flecks« einzuschränken.
Entsteht im Laufe des Gruppenprozesses in der Gruppe oder im Team ein
vertrauensvolles Klima kann dies dazu führen, dass sich der Bereich des
»Vermeidens und Verbergens« (Bereich
C) verkleinert. Dann steigen auch die Chancen, in der
Kommunikation mit den anderen
Gruppenmitgliedern
mehr über seinen eigenen »Blinden Fleck« (Bereich
B) zu erfahren. Und das wiederum bringt große Vorteile: Denn
damit erweitert sich der Bereich des «freien Handelns« (Bereich
A) zusehends und gewährt damit ein Mehr an Handlungsoptionen.
Dabei ist in der Gruppe oder im Team besonders der Feedback-Prozess
hilfreich.▪
Feedback
kann helfen, blinde Flecken zu verringern und durch geeignetes
Feedback-Geben können
Unterschiede zwischen Selbst- und Fremdbild bewusst gemacht werden. Auf die
Frage "Wie habe ich auf die anderen gewirkt?" können dann Antworten gefunden
werden. Für das
Feedback
ist dabei allem wichtig, was sich in den Bereichen
B und
D
"abspielt". Besonders der "Blinde Fleck" kann also, wenn das Feedback
angenommen werden kann, verkleinert werden und dem einzelnen damit
eine größeren Spielraum bei seinen bewussten Entscheidungen und bei der
Gestaltung seiner sozialen Beziehungen geben.
Grundsätzlich kann es also das Ziel persönlicher Weiterentwicklung
sein, diesen blinden Fleck zu erhellen. Dafür stehen verschiedene
psychologische Verfahren und Modelle zur Verfügung. Eine Möglichkeit ist der
Einsatz von Persönlichkeitsmodellen, etwa der Transaktionsanalyse. Mit dieser kann das eigene Verhalten bewusster
gemacht werden, indem man sich Gedanken über die eigenen Wertvorstellungen
und Normen macht.
(vgl.
Heinz-Dieter Loeber, Lerneinheit »Lernen und Gruppe«, 1994, S.187ff.),
Grafiken neu erstellt) Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
29.01.2021
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