Ist das Eisberg-Modell passé?
Das ▪
Eisberg-Modell des Bewusstseins, das auf den Begründer der
Psychoanalyse
»Sigmund Freud (1856 -1939)
zurückgeht, hat lange Jahre die psychologische Auffassung von Bewusstsein
und Unbewusstem geprägt.
Die moderne Gehirnforschung, Neurobiologie und
▪
Kognitionspsychologie haben aber mittlerweile eine Vielzahl von
empirisch fundierten Erkenntnissen gebracht, die zeigen, "dass es Zeit ist,
Freuds Ansicht über das Unbewusste aufzugeben." (Myers 2005, S.610)
Kein Wunder eigentlich: Sind die psychoanalytischen Konzepte doch "vage
formuliert und nicht operational definiert. Insofern kann ein Großteil der
Theorie nur unter Schwierigkeiten evaluiert werden." (Zimbardo/Gerrig
2004, S.619)
Viele namhafte Wissenschaftler folgen heute der Auffassung, dass das
Unbewusste eben kein "Kessel voller brodelnder Leidenschaften" und
auch kein "repressive(r)
Zensor" ist, sondern "ein kühle(r) Informationsverarbeiter, der unter der
Wahrnehmungsschwelle aktiv ist." (ebd.)
In diese Richtung zeigen auch die Forschungsergebnisse und Thesen, die von
folgenden Annahmen ausgehen:
-
Unsere
Wahrnehmungen und Interpretationen werden automatisch von ▪
Schemata gesteuert.
-
Die Aktivierung spezieller Assoziationen im Gedächtnis erfolgt durch
Reize, die man nicht bewusst vor Augen hat, sondern aufgrund von
Vorerfahrungen mit den jeweiligen Informationen. (Priming)
-
Es gibt eine von der
▪
rechten Gehirnhälfte, in der die Sprache eigentlich nicht zu Hause
ist, ausgehende Aktivität, die die linke Hand eines Patienten, bei dem
die beiden Gehirnhemisphären voneinander getrennt sind (split brain
patients), dazu bringt, einen Befehl auszuführen, den der Patient nicht
in Worte fassen kann.
-
Verschiedene
Aspekte des Sehens und Denkens werden neuronal gleichzeitig
verarbeitet. (▪
Das
Bindungsproblem)
-
Auch Menschen mit Gedächtnisverlust (Amnesie) verfügen über einen
Vorrat impliziter Erinnerungen, die, ohne dass sie bewusst aufgerufen
werden, wirken.
-
Es gibt Emotionen, die sofortige Reaktionen nach sich ziehen, ehe
überhaupt eine bewusste Analyse der Situation vorgenommen werden kann.
-
Das im Selbstkonzept des einzelnen zum Ausdruck kommende Gefühl für
die eigene Identität und den eigenen Wert und verallgemeinernde,
mitunter richtige, oft aber auch übergeneralisierende Überzeugungen
(Stereotype) nehmen automatisch und unbewusst darauf Einfluss, wie wir
Reize und Informationen aufnehmen und verarbeiten. (Myers 2005, S.610)
"Mehr als wir glauben fliegen wir per Autopilot." (Myers)
Das moderne Verständnis vom Unbewussten greift damit in gewisser Hinsicht
wieder auf Vorstellungen zueüxk, die in der Zeit vor Freud entstanden sind: " Mehr
als wir glauben fliegen wir per Autopilot." Das Unterbewusste: "ein im
Untergrund fließender Strom von Gedanken, aus dem spontan kreative Ideen
auftauchen." (ebd.)
Zwar hat der Gedanke Freuds, dass wir uns gegen Ängste wehren,
Unterstützung gefunden, aber sich dabei doch auch deutlich von
Grundannahmen Freuds entfernt.
-
So nehmen z. B.
Greenberg u. a. (1997), die die so genannte
Terrormanagementtheorie
entwickelt haben, an, dass Angst unter anderem Ausdruck des "Erschecken(s) ist,
das aus unserer Wahrnehmung der Verwundbarkeit und des Todes rührt." (zit.
n. Myers 2005, S.611)
Als Folge und zum Schutz vor dieser tief verwurzelten
Todesangst, so die Theorie, glauben Menschen fest an die eigene
Weltanschauung und streben nach einem hohen Selbstwertgefühl. Die Kehrseite
davon: "Verachtung für andere." Zugleich wenden sie sich angesichts einer
ihnen immer bedrohlicher erscheinenden Welt den Menschen zu, denen sie nahe
stehen. (Myers 2005, S.611)
-
Was Freuds
Konzept der ▪
Abwehrmechanismen des Ichs
betrifft, so gilt vor allem die von Freud angenommene Motivation für ihren
Einsatz im psychischen System des Menschen heute als überholt.
Was einen
Abwehrmechanismus auslöst, sind weniger die nach Freud ins Bewusstsein
drängenden Triebimpulse als das Bedürfnis, das eigene Selbstbild
aufrechtzuerhalten und zu schützen. (vgl. dazu auch:
Baumeister u.a. 1998)
Der eine oder andere der von Freud postulierte
Abwehrmechanismus konnte aber auch durch empirische Forschung belegt werden (z.
B. ▪ Reaktionsbildung, die zur Verteidigung des Selbstwertgefühls
antritt), andere wie z. B. die ▪
Verschiebung blieben weitgehend ohne empirisch nachweisliches
Fundament. Das Freud'sche Konzept der ▪
Projektion ließ sich soweit
wurden so modifiziert, dass das
ursprünglich von Freud bezeichnete Phänomen noch erkennbar geblieben ist.
Die moderne Forschung spricht allerdings in diesem Zusammenhang von
Konsensüberschätzung, wenn damit die
Tendenz beschrieben werden soll, dass wir Menschen dazu neigen, die Anzahl
der Personen zu überschätzen, die unsere eigenen Überzeugungen und
Verhaltensweisen teilen. Das führt gar in der Konsequenz dazu, dass wir
Fehler, die wir bei uns sehen und uns nicht zugestehen wollen, um so
deutlicher und häufiger bei anderen wahrnehmen. (vgl.
Myers 2005, S.611)
Trotz aller Kritik ist wohl festzuhalten, dass Freuds Theorie bis heute
die "komplexeste, umfassendste und überzeugendste Sichtweise der normalen
und abweichenden Funktionsweise der Persönlichkeit (ist) - selbst wenn ihre
Vorhersagen sich als falsch erwiesen haben. Wie bei jeder anderen Theorie
auch geht man mit Freuds Theorie am besten so um, dass man sie Stück für
Stück bestätigt oder widerlegt." (Zimbardo/Gerrig
2004, S.620)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
16.01.2021
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