Das wäre einfach. Ich bin normal, die anderen sind schwul. Klare Trennung,
eindeutige Identität. Doch das Leben ist selten schwarz-weiß, gut oder böse.
Ich finde es unheimlich angenehm", meint Marc (16), "wenn mich ein Kumpel
zärtlich in den Arm nimmt. Bin ich deshalb schwul ?" Wenn Sven betrunken
war, hat er immer wieder einen seiner Freunde angemacht, hat sich mit ihm
ins Bett gelegt, um sich gegenseitig zärtlich zu befriedigen.
Sven wollte sich dreimal das Leben nehmen. "Ich bin mit meinen Gefühlen
nicht mehr klar gekommen und habe mich vor mir selbst geschämt". Sind Jungs,
die miteinander onanieren schwul ? Sind Mädchen, die sich küssen lesbisch ?
Die sexuelle Neigung wäre angeboren hieß es neulich in Bravo-TV, was ein
Blödsinn. Angeboren ist uns das Bedürfnis nach Zärtlichkeit und
Geborgenheit. Wo wir sie finden wollen, entscheiden wir selbst. Im
Bravo-Girl-Fotoliebesroman, wird Vanessa bitterlich enttäuscht, weil sich
ihr neuer Freund letztendlich doch mehr zu seinem schwulen Partner
hingezogen fühlt. In der Mädchen-Lovestory reagiert eine Clique entsetzt,
als sie zwei Freundinnen knutschend im Bad überrascht, dabei wollte die eine
der anderen nur ganz praktisch erklären, wie man küsst. [...]
Wo ist die Grenze? Wo hört Zärtlichkeit auf, wo fängt Sexualität an? Dürfen
sich Jugendliche anfassen, so wie sich die Fußballer nach einem Tor in die
Arme fallen, sich über den Rücken streichen, ans Knie greifen, an den Arm
oder den Po? [...]
Jeder muss lernen, mit Berührungen und Körperlichkeit umzugehen. Was für
Kinder noch ganz selbstverständlich ist, sich an Vater oder Mutter zu
klammern, wird mit der Pubertät und der eigenen Identitätsfindung abgelegt,
man will sich ja von den Eltern distanzieren. Die Bedürfnisse nach Zuneigung
und Zärtlichkeit verschwinden aber nicht, ihre Befriedigung trägt einen
großen Teil zum Wohlbefinden bei.
Was spricht dagegen, dass Mädchen ihre eigene Sexualität mit ihren
Freundinnen entdecken. Es ist nicht sehr ungewöhnlich, wenn sich die
Freundschaft unter Jugendlichen in intime und sexuelle Bereiche hinein
entwickelt.
Rituale in bestimmten Freundeskreisen, sich zur Begrüßung zu küssen, auf
körperlichen Kontakt wert zu legen, dienen mehr der Distanz zu anderen
Cliquen in denen gleiches Verhalten verpönt ist, als dem eigenen
Wohlbefinden.
Dass Jungs und Mädchen untereinander mit schwulen Attitüden spielen, zeigt
ihr Bedürfnis nach Zärtlichkeit, die nicht vom Erwartungsdruck der
herkömmlichen geschlechtlichen Rollenverteilung geprägt ist: Der Mann als
aktiver Sexualpartner, die Frau als passiv Leidende. In homosexuellen
Beziehungen sind beide Partner gleich. Selbstverständlich kennen sich Jungs
bei männlichen Körpern besser aus, genauso wie Mädchen besser wissen, welche
Berührungen Frauen angenehme Gefühle vermitteln. [...]
Die größten Vorurteile bestehen gegenüber den sexuellen Praktiken von Lesben
und Schwulen. Wie kommen die Jungs nur darauf, sie müssten ihren Schwanz
immer irgendwo rein stecken ? Kann es nicht genauso erregend, genauso
befriedigend sein, sich von Kopf bis Fuß zärtlich zu berühren und sich dabei
selbst oder gegenseitig zu befriedigen ? Der Austausch von
Körperflüssigkeiten, wie es die Fantastischen Vier in ihrem Lied
beschreiben, kann doch nicht alles sein. Von der Fixierung auf das alte
Rein-Raus-Spiel könnten wir uns wirklich langsam verabschieden.
Bei vielen Jugendlichen schlägt das Bedürfnis nach Zärtlichkeit in
aggressive Verhaltensweisen um. Gefühle zu zeigen, sie rauszulassen und sich
ihnen hinzugeben, ist alle mal besser, als Gewalt. Warum schwul bei
Jugendlichen, die auf die Musik schwuler Popstars stehen, von Rio Reiser
über die Pet Shop Boys bis zu Elton John, Marc Almond und Jimi Somerville,
immer noch als Schimpfwort gilt, mag verstehen wer will.
(aus: Jugend- und Schülermagazin extrem, extrem Verlag,
(Auszüge) Peter Woernle, Schwetzingerstraße 20, 68165 Mannheim, Telefon 0621
409702 Telefax 0621 e-mail:
woernle@rummelplatz.uni-mannheim.de)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
08.10.2021