Wer nichtsahnend das Stichwort
"»Sexualisierung" "googelt", landet direkt zwischen den Fronten
und ein paar unkontrollierte Mausklicks weiter steht man mittendrin
in einem Minenfeld. Da hilft es auch zunächst nicht viel, wenn man
sich ruckzuck auf Wikipedia rettet, um der Sache irgendwie auf den
Grund zu gehen. Heißt es doch dort:
"Als Sexualisierung bezeichnet man dem Wortsinne nach
-
die
Fokussierung bzw. Hervorhebung der Sexualität innerhalb eines
umfassenderen Kontextes
-
die
Betrachtung eines Objektes unter sexuellen Gesichtspunkten bzw.
unter dem Aspekt der Sexualität, besonders wenn dieses Objekt diese
Betrachtung von sich aus nicht evoziert." (Wikipedia,
Zugriff: 5.3.2012)
So weit, so gut. Aber in welchen "umfassenderen Kontext" ist man da
geraten? In eine Art Kulturkampf für und gegen Sexualisierung der
Kindheit, wenn man den Begriff einmal in der wertfreien ersten
Bedeutung verwendet. Und ob diese Formulierung überhaupt politisch
korrekt ist? Weiß der Himmel! Minen und Fußangeln überall. Und das
in einem Land, in dem ein Schwuler Außenminister und ein anderer
Regierender Bürgermeister ist?
Der Kampf z. B., der in Berlin seit ein paar Jahren um die von der
SPD, den Grünen und der Linken 2009 im Berliner Abgeordnetenhaus
beschlossene und seit 2010 durchgeführte Kampagne
"»Berlin tritt ein für Selbstbestimmung und Akzeptanz sexueller
Vielfalt“ ein, stellt dabei nur die Spitze eines Eisberges dar.
Während sich das Land Berlin darin zum Ziel setzt, "die
Zivilgesellschaft in ihrem Engagement für sexuelle Vielfalt zu
unterstützen, um ein zivilcouragiertes Verhalten bei Übergriffen und
Diskriminierungen zu fördern" (Anlage
zur Senatsvorlage S-2673/2010, Zugriff: 3.3.2012), trommeln auf
der anderen Seite die CDU, Kirchen und die diesen nahestehenden
Verbände mit ihrer Kampagne "»Staatliche
Sexualisierung der Kindheit – Schützt uns davor!" auf ihrer
Online-Plattform »AbgeordnetenCheck
lauthals dagegen.
Während die Senatsmehrheit mit Schulen und zivilgesellschaftlichen
Trägern "ein Best-Practice-Leitbild für die Schule" entwickeln
will, "in der sich in vorbildlicher Weise dem offenen Umgang mit
unterschiedlichen sexuellen Orientierungen bzw. Identitäten
gewidmet, homo- und transphoben Einstellungen und Verhaltensweisen (Mobbing)
mit Auseinandersetzung begegnet wird" (ebd.),
sehen das die Gegner ganz anders. "Das ist aktive Sexualisierung von
Kindern und einfach ungeheuerlich!", sagt die Sprecherin der
Gegeninitiative
Hedwig von Beverfoerde im Februar 2012 in einem Online-Interview
(Zugriff: 3.3.2010). Vehement tritt sie dafür ein, dass "die
seelisch-moralische Unversehrtheit der Kinder" bewahrt bleibt, statt
ihnen "unter Zuhilfenahme einschlägiger Homosexuellen-Magazine" in
einem Planspiel schon in der 7. Klasse beizubringen, wie man ein
schwul-lesbisches Wochenende" organisieren könne. Und mit dem Blick
auf Kinder gerichtet, die so etwas wie "ein natürliches Schamgefühl
haben und die die Beschäftigung mit sexuellen Bildern und Themen in
der Schule ohnehin als quälend empfinden" meint sie, dass damit
"Grenze zum seelischen Kindesmissbrauch (..) überschritten" sei.
Längst hat sich das Terrain, auf dem der Kampf um die öffentliche
Meinung und die Meinungsführerschaft in dieser Frage ausgetragen
wird, das Internet erreicht. In nahezu 50.000
E-Mail-Petitionen hätten sich Gegner, so die Gegeninitiative, bis
Mitte Februar 2012 schon per
Petition per Download an die Abgeordneten gegen die Politik der
Senatsmehrheit ausgesprochen. Darin bringen sie ihre Sorge zum
Ausdruck, dass mit der "Sexualisierungskampagne" des Senats die
Kinder "zu unterschiedsloser Offenheit für alle möglichen sexuellen
Orientierungen erzogen werden". Zugleich fordern sie ein Vetorecht
der Eltern gegen die "Vermittlung und Darstellung auch abseitiger
sexueller 'Identitäten' und Lebensweisen" ein und geißeln die
entsprechende Schulpolitik als "eine Scham und Sexualmoral
verletzende Indoktrinierung, der die Kinder schutzlos ausgeliefert
sind".
Die Senatsmehrheit hält dagegen, es gehe um einen "konstruktiven
Umgang mit Unterschieden", vor allem darum, auch in der Schule ein
Fundament dafür zu schaffen, "dass Diskriminierungen, Mobbing und
Gewalt auf Grund verschiedener Merkmale - insbesondere im Hinblick
auf Vorurteile gegenüber Lesben, Schwulen, bi-, trans- und
intergeschlechtlichen Personen (LSBTI) – wahrgenommen, abgebaut und
präventiv verhindert werden." (Anlage
zur Senatsvorlage, S.9f.) Um dieses Fundament zu schaffen, wird
im Rahmen von sechs Handlungsfeldern ein ressortübergreifendes
Konzept erarbeitet und umgesetzt. Dabei geht es um die folgenden
Handlungsfelder, für die jeweils konkrete Umsetzungsmaßnahmen
vorgesehen sind:
-
Bildung und
Aufklärung stärken
-
Diskriminierung, Gewalt und vorurteilsmotivierte Kriminalität
bekämpfen
-
Wandel der
Verwaltung vorantreiben
-
Erkenntnisgrundlagen verbessern
-
Dialog
fördern
-
Rechtlicher
Gleichstellung bundesweit zum Durchbruch verhelfen
Was in Berlin seinen Ausgang genommen hat, wirkt mittlerweile weit
über dieses Bundesland hinaus. In Deutschland haben andere
Bundesländer inzwischen ähnliche Initiativen auf den Weg gebracht:
Hamburg z. B. hat im Schuljahr 2010/11 ebenfalls umfangreiche
Maßnahmen im Schulbereich unter dem Titel "Akzeptanz von sexueller
Vielfalt" gestartet. Im November 2010 hat das Kabinett in
Nordrhein-Westfalen einen "Aktionsplan gegen Homophobie“
beschlossen. (vgl.
Wikipedia, Zugriff: 3.3.2012)
Der Kampf um die Deutungshoheit im Bereich von Sexualität, und darum
geht es, ist schon lange entbrannt und ein Ende ist angesichts des
gesellschaftlichen Wandels wohl nicht in Sicht. Bei jedem Versuch
der Politik, neuen gesellschaftlichen Entwicklungen Rechnung zu
tragen, brechen alte Wunden wieder auf. Eltern verweigern dann dem
Staat vielerorts wieder erneut die Gefolgschaft, auch wenn das
Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 21.9.1977 schon
vor langer Zeit festgestellt hat, dass der Staat "aufgrund seines
Erziehungsauftrages und Bildungsauftrages (Art. 7 Abs. 1 GG)
berechtigt (ist), Sexualerziehung in der Schule durchzuführen."
Die vermeintliche "sexuelle Tragödie" Deutschlands spült jeden Tag
neue Horrorgeschichten in die Medien, die wie im Fall des Buches
"Deutschlands sexuelle Tragödie" des Berliner Jugendpastors Bernd
Siggelkow und des Journalisten Wolfgang Büscher (2009) aber nur,
zugegebenermaßen schockierende, Erfahrungsberichte und mehr oder
weniger zufällige Rechercheergebnisse über die sexuelle
Verwahrlosung der Kinder und Jugendlichen beinhalten. Da muss das
Beispiel einer Mutter, die mit ihrem fünfjährigen Kind Pornos
anschaut, oder die Behauptung eines 15-jährigen Mädchens, es habe
schon mit 50 oder 60 Sexualpartnern Geschlechtsverkehr gehabt, zur
Verdeutlichung herhalten, um "auf diese fürchterliche moralische
Wunde in unserem Land hinzuweisen", wie ein Rezensent des Buches auf
der Webseite "Kinder in Gefahr", der
Deutschen Vereinigung für eine Christliche Kultur (DVCK) e.V.
(Zugriff 3.5.2012) formuliert. Ob man mit solchen Konzepten
einer als "Generation Porno" verschrienen Jugend gerecht werden
kann, ist indessen auch wissenschaftlich heftig umstritten. Mit der
Realität der ganz überwiegenden Mehrheit der jungen Leute in unserer
Gesellschaft hat dies jedenfalls wenig zu tun, das zeigt auch die
jüngste
Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung
(Jugendsexualität 2010), die neben vielen anderen
Gesichtspunkten die wachsende Bedeutung der Schule als
Vermittlungsinstanz betont. So geben laut Studie, mindestens drei
Viertel der Jugendlichen an, "dass ihre Kenntnisse über Sexualität,
Fortpflanzung und Verhütung (unter anderem) aus dem Schulunterricht
stammen - keine andere Quelle der Sexualaufklärung wird häufiger
genannt." Und: "Auch für Themen, bei denen die Jugendlichen aktuell
noch bei sich selbst Wissenslücken feststellen, sind Lehrer als
Wissensvermittler für Jungen - unabhängig von der Herkunft - die
wichtigsten Personen aus dem professionellen Kontext." (ebd.,
S.7)
Also Berlin, recht so, allen voran! - Besser keinen Schritt weiter,
Minengefahr!
Gert Egle.
www.teachsam.de, 3.3.2012