"Ich
lese eigentlich immer gerade ein Buch", erklärt der Schüler Johnny
Herpell in einem Artikel der Süddeutschen Zeitung vom 5./6. März 20111,
der sich mit den Veränderungen auseinandersetzt, die durch den
E-Book-Boom in Amerika auch auf Deutschland zukommen könnten. "Bei mir
konkurrieren Bücher und Computer nicht", fährt er fort und betont: "Ich
lese nicht weniger Bücher, nur weil ich einmal am Tag auf Facebook gehe.
Ich schaue weniger fern als früher." Im Medienzeitbudget des jungen
Mannes behauptet das Buch also (noch) seinen Platz. Dies entspricht auch
längerfristigen gesellschaftlichen Trends,. So hat man in einer
Untersuchung von SevenOne Media, Mindline, Enigma GfK
und Forsa aus dem
Jahr 20102 festgestellt, dass sich das
herkömmliche Buch im Zeitraum zwischen 2002 und 2010 zwar mit einem
Anteil zwischen 6% und 7% am durchschnittlichen Medienzeitbudget der
Befragten behaupten kann. Schaut man dagegen auf den gesamten Medienmix
aller genutzter Medien dann landet das Lesen von Büchern aber weit
abgeschlagen hinter dem Fernsehen (um die 37% im gesamten Zeitraum oder
dem Internet (2002: 6%, 2010: 18%).
Zeitungen und Zeitschriften ergeht es noch schlechter: Sie verlieren
in zwischen 2002 und 2010 mehr als die Hälfte und bringen es im Jahr
2010 auf gerade noch auf einen fünfprozentigen Anteil am
durchschnittlichen Medienmix der Befragten. Natürlich bilden solche
Daten, selbst wenn sie einen Zeitraum von mehreren Jahren umfassen, die
komplexen Entwicklungen der Medienlandschaft nur unzureichend ab, denn
die zunehmende Konvergenz der Medien setzt hier ganz neue Akzente. Die
Tatsache also, dass die Grenzen zwischen den einzelnen Medien fallen,
von denen früher einmal jedes für sich eine räumlich, zeitlich und
sozial/situativ begrenzte "Sinnprovinz" mit bestimmten Zwecken,
Handlungs- und Nutzungsweisen und anderen Normen (Krotz
2007, S.88, 94) im Alltagsleben der Menschen eingenommen hat, ist
nur ein soziokultureller Ausdruck für diese umfassende Entwicklung.
Kein Wunder, dass sich angesichts der wohl nicht rosigen Aussichten für
das herkömmliche Buch allerorten Mahner unterschiedlicher Herkunft zu
Wort
melden. Mit ihren Kassandrarufen3 über den
Untergang des Abendlandes wegen des vermeintlichen Buchsterbens schlagen
sie Alarm.
Aber auch moderne Neurowissenschaftler wie Maryanne Wolf, die in
Ihrem Buch "Das lesende Gehirn" (Spektrum Verlag) "vor den Gefahren des
ausschließlichen digitalen Lesens für die ganze Gesellschaft" warnt",
sehen die Sache kritisch und differenziert. Ihre Mahnungen zielen vor
allem auf Kinder, die "süchtig nach digitalen Medien" seien und deshalb
auf Grund ihrer "Buchferne" unter Umständen niemals lernen würden, was
sie "tiefes Lesen" nenne. "Unsere
Kinder werden vielleicht niemals erfahren, was es heißt, sich in eine
Figur wirklich einzufühlen, dann eine kritische Analyse zu machen und zu
eigenen Gedanken zu kommen", betont sie in einem Interview mit der
Süddeutschen Zeitung vom 17./18. Juli 20104.
Ihre Begründungen: Wer mit digitalen Medien liest, schenkt den
Informationen nur kurz seine Aufmerksamkeit, zu kurz dafür um die Dinge
im Gehirn abgleichen zu können oder gar eigene Ideen dazu zu entwickeln.
"Es sind", so erklärt sie, "die selbst gemachten Notizen am Seitenrand
der Bücher, die die Grundlage für unsere Gedanken bilden. [...] Ein Buch
fühlt man, riecht man, berührt man. Ein Buch hat eine Art Pausenknopf."
Auch wenn es, wie sie einräumt, heute noch keine wirklich verlässlichen
harten, neurowissenschaftlichen Daten über die Effekte digitalen Lesens
gibt, ist die Forscherin von der amerikanischen Tufts University
überzeugt davon, dass man heutzutage nur auf einem Mittelweg vorankomme,
"bei dem wir analoge und digitale Medien bewusst nutzen." Insbesondere
nimmt sie die Eltern von kleinen Kindern in die Pflicht: "Mein bester
Ratschlag an Eltern lautet: 'Sorgen Sie für ein Haus gedruckter Bücher
und lesen Sie Ihrem Kind jeden Abend vor, bis sie fünf Jahre oder älter
sind. [...] Das Internet ist so verführerisch, und Kinder werden so
schnell süchtig davon, dass wir sie schrittweise an die digitale Technik
heranführen sollten."
Welche Bücher Kinder und Jugendliche lesen, wie häufig sie das tun und
wie gerne, wird immer wieder mit Umfragen ermittelt. Die Kinder- und
Jugendstudien des
Medienpädagogischen
Forschungsverbundes Südwest (mpfs) erheben in regelmäßigen Abständen
statistische Daten zum Umgang von Kindern und Jugendlichen mit den
modernen Medien. Seit 1998 werden für die Studien unter dem Titel Jugend
und Medien (JIM-Studie(n), die als ein langfristiges Projekt angelegt
ist (sind), Jahr für Jahr ca. 1,000 Jugendliche im Alter von 12 bis 19
Jahren telefonisch zu ihren Freizeitaktivitäten, Themeninteressen,
Mediennutzung, Medienbesitz, Computer- und Videonutzung etc. befragt.
Die Daten, die dabei ermittelt werden, sollen vor allem dazu dienen,
dass "Strategien und Ansatzpunkte für neue Konzepte in den Bereichen
Bildung, Kultur und Arbeit" (mpfs-Webseite,
20.9.2010) erarbeitet werden können.
Beim Lesen von Büchern unterscheiden sich Jungen und Mädchen deutlich.
"Knapp die Hälfte der Mädchen greift mehrmals pro Woche zu einem Buch,
jedoch nur 28 Prozent der Jungen. Diese Tendenz zeigt sich auch bei den
totalen Leseverweigerern: jeder vierte Junge aber nur jedes zehnte
Mädchen liest nie ein Buch. Während sich die Lesehäufigkeit im
Altersverlauf nur wenig ändert – bei älteren Jugendlichen nimmt die
Häufigkeit etwas ab – zeigen sich gravierende Unterschiede bei der
Betrachtung nach dem Bildungsniveau. Nur etwa jeder fünfte Jugendliche
an der Hauptschule bzw. mit Hauptschulabschluss liest regelmäßig, der
Anteil an Nichtlesern liegt bei über einem Drittel. Mit höherer formaler
Bildung steigt die Lesehäufigkeit deutlich an. Knapp die Hälfte der
Gymnasiasten bzw. der Jugendlichen mit Abitur lesen regelmäßig Bücher
und nur noch jeder Zehnte hat keinerlei Interesse an Büchern." (»JIM
Studie 2010, S.24)
Wie häufig lesen Jugendliche heute Bücher?
Betrachtet man die Gesamtzahl aller Jugendlichen beider Geschlechter, so
lesen 38% von ihnen täglich bzw. mehrmals pro Woche ein Buch. Nie zu einem Buch
greifen dagegen 17%. Zwischen den beiden Polen gibt es eine Gruppe von 18% der
Jugendlichen, die Bücher zwischen einmal pro Woche und einmal alle vierzehn Tage
zum Lesen hervorholt. Nur einmal im Monat oder noch seltener machen dies 27% der
jungen Leute.
Hier lohnt sich auch der gesonderte Blick auf Mädchen und Jungen. Täglich bzw.
mehrmals in der Woche lesen 48% der Mädchen, während es bei den Jungen nur 28%
sind. !7% der Mädchen tun dies zwischen einmal pro Woche und einmal in vierzehn
Tagen, dagegen geben dies 19% der Jungen an. Der größte Anteil der Jungen,
nämlich 30%, gibt an, einmal im Monat oder seltener ein Buch in die Hand zu
nehmen, Mädchen verzeichnen hier einen Anteil von 24%. Auch bei den notorischen
Buchverweigerern liegen die Jungen mit einem mehr als doppelt so großen Anteil
vorne (23%), während diese Gruppe bei den Mädchen etwas mehr als ein Zehntel
ausmacht (11%. (vgl.»JIM
Studie 2010, S.24)
Jugendbuchmarkt und E-Books
Obwohl über die ganze Gesellschaft hinweg gesehen, das Bücherlesen im
Medienzeitbudget auf vergleichsweise niederem Niveau stagniert, verzeichnet der
Markt für Kinder- und Jugendbuchliteratur Zuwächse, und zwar deutlich stärker
als der Buchmarkt insgesamt, wie die vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels
und der Arbeitsgemeinschaft Jugendbuchverlagen herausgegebene Studie "Kinder-
und Jugendbücher - Einblicke in Lebens- und Lesewelten relevanter Zielgruppen"5
für das Jahr 2009 ermittelt hat. Mit insgesamt 72,3 Millionen verkauften Büchern
(2009) stellen die Kinder. und Jugendbücher eine ganz wesentliche Säule des
deutschen Buchmarkts dar.(vgl. Lesen in Deutschland -Projekte und Initiativen
zur Leseförderung,
Meldung vom 16.11.2010) 586 Millionen Euro wechselten auf diese Weise
ihre Besitzer. Jeder, der 14,1 Millionen Kinder- und Jugendbuchkäufer kaufte
2009 für etwa 40 Euro 5,1 Kinder und Jugendbücher. Und die ganz überwiegende
Mehrheit der Käufer (87%) zieht es dabei in die stationären Buchhandlungen, mehr
als drei Fünftel der Käufer (61%) gehen beim Shoppen überhaupt am liebsten in
Buchhandlungen.
Dessen ungeachtet steigt aber auch das Interesse an E-Books. Zwar sind
viele Eltern, die den Lesestoff für ihre Kinder kaufen, bei digitalen Büchern
noch zurückhaltend. Auch wenn sie für sich das Lesen digitaler Bücher
ausschließen, glauben sie doch, dass digitales Lesen von Büchern zur Zukunft
ihrer eigenen Kinder hinzugehören wird. Die Zehn- bis Zwölfjährigen können sich
das Lesen digitaler Bücher am ehesten vorstellen, sie weisen damit die höchste
E-Book-Affinität auf. Fünf Prozent von ihnen können sich das Lesen eines E-Books
"auf alle Fälle" vorstellen, 17 Prozent halten es für "wahrscheinlich". Gefolgt
werden die Kinder von den 13- bis 19-jährigen Jugendlichen, von denen etwa
20 Prozent eine E-Book-Affinität haben. Wer heute älter als zwanzig ist, kann
sich kaum vorstellen, ein E-Book zu lesen (ca. 20%), geschweige denn ein E-Book
zu kaufen (10%). (vgl. Lesen in Deutschland -Projekte und Initiativen zur
Leseförderung,
Meldung vom 16.11.2010)
Wie immer es um das Bücherlesen in absehbarer oder ferner Zukunft bestellt
sein sollte, in einem sind sich sämtliche Trend- und Marktforscher einig: Die
Zukunft des Buches hat längst schon begonnen. Und diese Zukunft wird mehr und
mehr digital sein. Schon möglich, dass es Menschen geben wird, die das Lesen von
Büchern verlernen, wenn sie in ihrem Alltagsleben textlichen Informationen nur
kurze Aufmerksamkeitsspannen gönnen und von kleinauf nur an kleine
Informationseinheiten gewöhnt sind. Viel Hoffnung macht auch die Mahnung
Maryanne Wolfs nicht: "Sorgen Sie für ein Haus voller gedruckter Bücher ...".
Aber auch für Sie gibt es einen Hoffnungsschimmer für alle Familien: " "Ich
denke, die Großmütter der Welt sollten jungen Eltern helfen, zu entscheiden,
welche Medien gut für die Kinder sind. Großmütter wissen, dass Spiel, Gespräche,
Natur und Musik wichtig für Kinder sind." - Vorläufig jedenfalls,
vielleicht.
Gert Egle, www.teachsam.de,
8.10.2011
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1 Es muss krachen. Das
E-Book boomt in Amerika, neue Lesegeräte überschwemmen jetzt auch den deutschen
Markt. Eine Umfrage von Rebecca Casati und Gabriela Herpell, in: Süddeutsche
Zeitung, Wochenende, 5./6.3.2011)
2 SevenOne Media, Mindline,
Enigma GfK und Forsa aus dem Jahr 2010 zufolge (Navigator 4 -
Mediennutzung 2010, Seite 8); 4399 Personen im Alter von 14-49 Jahren wurden für
den Zeitraum vom Frühjahr 2002 bis zum Frühjahr 2010 zur Zusammensetzung ihres
Medienzeitbudgets befragt
3 Kassandrarufe:
Ausdruck geht auf die gr. Mythologie zurück; »Kassandra,
die Tochter des »trojanischen
Königs »Priamos und der »Hekabe,
wurde vom Gott »Apollon
bestraft, weil sie seinem Liebeswerben nicht nachgegeben hatte, obwohl er ihr
sogar die Gabe der
Vorhersehung geschenkt hatte. Da Apollon ihr aber diese Gabe nicht mehr
nehmen konnte, belegte er sie mit einem Fluch. Fortan konnte sie zwar Dinge
vorhersehen, aber der Fluch sorgte dafür, dass niemand mehr ihren Vorhersehungen
Glauben schenkte. Der Begriff Kassandrarufe rührt davon, dass Kassandra, die von
ihrem Volk oft wie eine Verrückte behandelt wurde, am Ende des »Trojanischen
Krieges die Einwohner der Stadt Troja vergeblich vor dem »Trojanischen
Pferd warnte, einer List, mit der es den angreifenden Griechen letztlich
gelang, Troja zu erobern. Als Kassandrarufe gelten heute (laute, immer wieder
ausgesprochene) Warnungen und Mahnungen vor drohenden Gefahren, denen aber
niemand glaubt.
4 "Sorgen Sie für ein Haus
voller Bücher!" - Die Neurowissenschaftlerin Maryanne Wolf plädiert dafür,
Kinder weiterhin mit gedruckten Texten zu konfrontieren. Interview mit Nicola
Schmidt, in: Süddeutsche Zeitung, 17./18. Juli 2010
5 Die Studie "Kinder- und
Jugendbücher - Einblicke in Lebens- und Lesewelten relevanter Zielgruppen" wurde
vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels und der Arbeitsgemeinschaft der
Jugendbuchverlage in Zusammenarbeit mit der Gesellschaft für Kommunikation (GfK)
und Sinus Sociovision erarbeitet bzw. herausgegeben.
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
16.08.2020