Im
»antiken Rom war das Lesen seit dem 4. Jahrhundert
v. Chr. eine in der
römischen Oberschicht (Aristokratie) vergleichsweise weit
verbreitete Kulturtechnik, die fast schone eine Art "Alltagskompetenz"
(Schön 2001,
S.6) war. Allerdings konnten nach vorsichtigen Schätzungen höchstens 15% der
Gesamtbevölkerung überhaupt lesen (vgl. Hartmann
2015, S.714) und daher blieb im »Römischen
Reich wie eigentlich überall vor seiner Zeit
die literale und die literarische Kultur eine "Elitekultur" (ebd.,
S.716)
Zunächst waren es ▪ hellenistische
Einflüsse, welche die Lesekultur in Rom geprägt haben. Dabei
interessierte sich das städtische aristokratische
"Bildungsbürgertum" (Schön 2001,
S.6), zu dem in der überwiegenden Mehrzahl Männer, aber durchaus
auch einige Frauen und sogar wenige Sklaven gehörten, vor allem für
die griechische Literatur.
Diese Lesepublikum, das nie ein Massenpublikum war, konnte sich im
Römischen Reich zwischen dem 4. Jahrhundert v. Chr. bis in die
»Römische
Kaiserzeit (27 v. Chr. bis ca.
284/285)
hinein dabei auf eine sich mehr und mehr entwickelnde Lese- und Buchkultur
stützen, die von ausgeklügelten Vertriebswegen, von Verlagen, die
Autoren sogar zum Bücherschreiben beauftragten, von öffentlichen
Bibliotheken und zahlreichen "Kopieranstalten" von Schreibern, die
Texte in der Regel in Großbuchstaben (»Majuskeln)
und ohne Abstand zwischen den Wörtern (»scriptio
continua) in Kolumnen auf »Papyrus
niederschrieben, geprägt war. Es gab aber auch geweißelte Holztafeln
und sogar, einer etruskischen Tradition, folgend Bücher aus Leinen,
mit denen Priester ihre religiösen Texte konservierten (vgl. Hartmann
2015, S.712)
Die literarische Kulturpraxis hatte für die Aristokratie dabei eine
außerordentlich große Bedeutung. Die Beschäftigung mit Literatur
gehörte zum guten ton der Oberschicht, mehr noch, sie war
Bestandteil ihres üblichen Tagesablaufs und damit ein wichtiger Teil
ihres gesellschaftlichen Lebens, das sie mit ihrer elitären sozialen
Lese- und Buchkultur von den der mündlichen Alltagskultur der
Unterschichten abgrenzte. Diese kam mit etlichen literarischen
Stoffen aber durchaus in Berührung, wenn sie die Theateraufführungen
besuchten.
Die räumliche Ausdehnung des Römischen Reiches
von 510 v. Chr. bis 530 n. Chr.
Roke (d) / CC BY-SA (
http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)
Römische Leser konnten laut oder leise lesen, wenn ihnen danach war,
gemeinsam mit anderen (vorlesen) oder für sich allein, draußen oder
drinnen, wo immer ihnen danach war, wenn sie Lust auf Lesen hatten.
(vgl. ebd.,
S.712f.)
Sie fingen an, griechische und lateinische Bücher zu sammeln, die
man sich auf unterschiedlichen Wegen beschaffen konnte und schon
Anfang des 2. Jahrhunderts nahezu überall im weiten Rund des Reiches
zu bekommen waren. In der römischen Kaiserzeit schließlich waren
Bücher so sehr Statussymbole geworden und ihr "zum festen
Bestandteil des gehobenen Lebensstils" (vgl.
ebd.,
S.713) einer sozial privilegierten Oberschicht geworden, dass
vereinzelt sogar namhafte Stimmen laut wurden, die das bloße Haben,
Besitzen und Ausstellen von Büchern durch Ungebildete scharf
kritisierten.
Lesen blieb aber eine elitäre Angelegenheit und eine
"Alltagskompetenz" der Oberschicht, die auch die im öffentlichen
städtischen Raum sich in der Kaiserzeit mehr und mehr verbreitenden
Inschriften auf Stein, Metall oder Holz lesen und verstehen konnte.
(vgl. ebd.,
S.713)
In der »Spätantike,
die mit der Herrschaft »Diokletians
(zwischen 236 und 245 bis 312), der ab 284 bis 305 n. Chr. als
römischer Kaiser regierte, begann und die nach den Wirren der
sogenannten »Völkerwanderung
(375 bis 568), der »Teilung
des Reiches (395), dem »Untergang
des weströmischen Reiches (476/480) und der Transformation des
oströmischen Reiches in das
Byzantinische Reich (7. Jahrhundert). letztendlich fließend ins
»Frühmittelalter
übergegangen ist, erhielt die römische Buch- und Lesekultur neue
Impulse, den man als den "spätantiken
Medienwandel" (ebd.,
S.715, Hervorh. d. Verf.) bezeichnet hat.
Dieser hat
technologische und soziale Aspekte und stand darüber hinaus in einem
Zusammenhang mit der Entwicklung und Ausbreitung des »Christentums,
das nach einer Zeit langer »Verfolgungen
(zuletzt auch noch unter »Diokletian
und Galerius (303–311) unter »Konstantin
dem Großen (zwischen 270 und 288 - 337) nicht nur von der an ab
313 n. Chr. gewährten Religionsfreiheit im Römischen Reich (»Mailänder
Vereinbarung) profitierte, sondern von ihm auch gegenüber den
anderen Religionen privilegiert wurde (»konstantinische
Wende). Er selbst bekannte sich etwa ein Jahrzehnt später klar
und deutlich zum Christentum und ließ sich 337 noch auf seinem
Sterbebett taufen. Die Gründe dafür, dass Konstantin das Christentum
zu einer Art Staatsreligion machte, waren vielfältig. Zwei davon
waren, dass ihm die kirchlichen Organisationsstrukturen bei der
Verwaltung seines Riesenreiches nützten und die führenden Vertreter
des Christentums hochgebildet waren und dem Kaiser zur Sicherung
seiner Macht auch geeignete philosophisch-politische, rhetorische
Legitimationsstrategien anbieten konnten, wie z. B. die Idee eines
sakralen Kaisertums, das seine Nachfolger zum Konzept des »Gottesgnadentums
weiterentwickelt haben.
Der technologische
Wandel, der sich in der Spätantike im Bereich der Buch- und
Lesekultur, war gekennzeichnet durch den seit dem 2. Jahrhundert n.
Chr. sich schon ganz allmählich vollziehende Verdrängung des
Schriftträgers Papyros hin zu dem aus Tierhaut gefertigten
Pergament. Im 4. und 5. Jahrhundert hat sich das neue Trägermedium,
das nicht nur robuster, platzsparender (es war von Anfang an
beidseitig beschreibbar) und so auch billiger, sondern auch
handlicher und bedeutend leichter zu transportieren war, gegenüber
dem Papyrus durchgesetzt.
Das neue Material
setzte auch mit einem neuen Format, der Vorherrschaft der
Papyrusrolle in der Lesepraxis ein Ende. Mit dem Pergament entstand
nämlich ein dem heutigen Buch bis auf die Bindung sehr
vergleichbares Buch, dessen Pergamentseiten zusammengeheftet waren.
Die neue Buchform wird als Kodex
bezeichnet. Zwar war Pergament als Trägermedium nicht wirklich neu,
man experimentierte damit schon seit Jahrhunderten (Schön 2001,
S.8), aber eigentlich wurde es erst durch die Christen regelrecht
populär gemacht.
Sie brachten das
Pergament auch aus ideologischen Gründen gegen das Papyrus in
Stellung, das noch immer "Medium der Leitkultur" (Hartmann
2015, S.715) war. Der von den Christen von Anfang an bevorzugte
Kodex wurde somit auch zu einem Symbol für ihre eigene elitäre Lese-
und Buchkultur, die sich auch damit von der heidnischen Kultur mit
ihrer Papyrusrolle abzugrenzen verstand. Ihre ▪ "heiligen
Schriften" wurden so von an Anfang an in Kodexform verbreitet,
"die Rolle (...) assoziiert mit der 'alten', der heidnischen Kultur.
Der Kodex war das 'sozial Niedrigere', mit dem sich das Christentum
als Gegenkultur identifizierte." (Schön 2001,
S.8)
Der Wechsel von der
Rolle zum Kodex revolutionierte auch die Lesepraxis. Die
zusammengeklebten Papyrus-Rollen, deren gebräuchlichste Formate
zwischen 19 und 25 cm waren und bei literarischen Texten ca. 5-6,
aber durchaus auch einmal bis zu 10 m lang waren (ebd.,
S.7), mussten beim Lesen von rechts nach links abgewickelt werden.
Dazu brauchte man immer beide Hände, wehe, wenn die Rolle sich beim
Lesen auf den Knien dabei aus Versehen gänzlich entrollte, an den
Rändern ausfranste oder sonst wie beschädigt wurde! Allerdings waren
vor allem kurze, meist literarische Texte, die auch auf sehr
kleinformatigen Papyrusröllchen geschrieben waren, oftmals sogar
viel leichter zu handhaben als das bei der Pergamentnutzung übliche
vergleichsweise große Buchformat. So konnte, wie
Schön (2001,
S.8) anschaulich beschreibt, "ein Pergamentröllchen, vielleicht mit
einem Ovid-Text, (...) auch die elegante römische Dame leicht im
weiten Ärmel verschwinden lassen, wenn das nicht jeder sehen
sollte."
Statt mühseligem und
höchst konzentriertem Hin- und Herrollen mit dem Papyrus war mit dem
Pergamentkodex jetzt vergleichsweise leichtes Blättern im Buch
angesagt. Andere bis dahin schon übliche Lesepraktiken, wie z. B.
das individuelle Lesen und das Vorlesen in der Gemeinde, änderten
sich aber in der christlichen Lese- und Buchkultur zunächst nicht.
Allerdings waren die großformatigen, umfangreichen und deshalb sehr
schweren christlichen Pergamentkodizes, auf denen sie ihre "Heiligen
Schriften" aufbewahrten und in den Grenzen handschriftlicher Kopien
vervielfältigen, eher dazu geeignet, stationär, z. B. wie z. B. im
frühen Mittelalter als auf dem Altar thronende »Evangeliare,
Messbücher (»Missale)
oder als Bibeln, präsentiert und im Rahmen liturgischer Handlungen
im Gottesdienst verwendet zu werden. (ebd.,
S.8)
Mit dem
technologischen Wandel veränderten sich im nach und nach gänzlich
christianisierten spätantiken römischen Reich im 4. Jahrhundert n.
Chr. aber auch die Lesestoffe, die fortan überwiegend christlich
geprägt waren und in dessen Gefolge auch das Leseverhalten.
Missale secundum ritum
ecclesiae Bremense (1511)
(Bremer
Dom-Museum)
Jürgen Howaldt / CC BY-SA 2.0 DE (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/de/deed.en)
Noch in der Blüte der
römischen Kaiserzeit hatten die Lesestoffe aller Art zugenommen, man las extensiv, jetzt aber rückte die
intensive Lektüre der christlichen Schriften in den Mittelpunkt.
Sie aus dem Gedächtnis aufzusagen, bei der sich andauernd
wiederholenden Lektüre derselben Bücher wurde ebenso wichtig, wie
die »kontemplative,
in tiefer geistiger Ausrichtung auf Gott eher intuitiv-spirituelle,
denn diskursive Versenkung in die "heiligen Schriften", wie sie vor
allem das seit dem 4. Jahrhundert entstehende »christliche
Mönchtum in den Klöstern mit ihrem streng normierten Studium
kanonischer Schriften (»Bibel,
»Altes
Testament, »Neues
Testament, verschiedene Schriften frühchristlicher »Kirchenväter)
(vgl. Hartmann
2015, S.715).
Die »Klosterbibliotheken
aber auch Bibliotheken, die im Umfeld von Kirchen aufgebaut und
gepflegt wurden, prägten dabei in besonderer Weise diese Buchkultur.
In den dort oft eigens eingerichteten »Skriptorien
wurden Texte, darunter viele, die noch aus der Antike stammten,
abgeschrieben und damit handschriftlich vervielfältigt. Allerdings
betraf das sicher nur eine Auswahl von Schriften. Was durch das
Raster des allgemeinen Bildungskanons fiel, ist wohl spätestens in
dieser Zeit für immer verlorengegangen. Dementsprechend "(ist) die
Geschichte der Bibliotheken dieser Epoche (...) damit primär eine
Geschichte des Verlusts." (ebd.)
Der Zusammenbruch des
Römischen Reiches und seine Aufteilung unter den germanischen
Eroberern war ein tiefer Einschnitt in die sich seit der Antike
entwickelnde Buch- und Lesekultur. Die Germanen, in deren Kultur
Schriftlichkeit keine Rolle spielte, hatten dafür wenig übrig. Aus
diesem Grund lag auch das Lesen außerhalb der Klostermauern am
Boden. Das Lesepublikum war fast nur auf Mönche geschrumpft und war
"somit wieder eine Domäne von Spezialisten geworden." (ebd.,
S.716)
▪
arbeitstechnik lesen
▪
Eine
Schreibe ist keine Rede
▪ Schrift
sind nicht nur Buchstaben
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
17.12.2023