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Feldpostbrief
von Lothar Dietz (1889-1915, gefallen am 18.04.1915 bei Ypern)
"[...] Ihr in der Heimat könnt Euch nicht die Geringste Vorstellung
davon machen, was es für uns bedeutet, wenn in der Zeitung schlicht und
einfach zu lesen ist: 'In Flandern fanden heute wieder nur
Artilleriekämpfe statt!' Tausendmal lieber vorgehen in verwegenem Angriff,
koste es, was es wolle, als das tagelange Ausharren im Granatfeuer, wo man
immer nur wartet, ob denn die nicht kommt, die einen verstümmelt oder
zerschmettert. Rechts von mir stöhnt seit drei Stunden im Unterstand ein
Unteroffizier, dem eine Granate beide Beine und einen Arm zerschmetterte.
Den steilen Abhang des Laufgrabens hinunter ist er in der Zeltbahn nicht
zu transportieren, und der andere Verbindungsgraben nach rückwärts ist
ersoffen. So ist guter Rat teuer. Wer schwer verwundet ist, geht auf dem
Transport aus dieser Stellung meist zugrunde. Der Tag kostete uns vier
Tote, zwei Schwerverletzte und drei Leichtverwundete. Auf 60 m liegen wir
den Engländern gegenüber und sind sehr auf der Hut, da sie gar zu gern
unsere Höhe wiederhaben möchten. Hier oben haben wir einen halbwegs
passierbaren Graben, weil wir alles Wasser nach dem tiefergelegenen
englischen Gräben ableiten. Aber unsere linken Nachbarn, die 143er, müssen
Tag und Nacht zwei elektrische Pumpen in Betrieb halten, sonst können sie
sich vor Nässe nicht retten.
600 m hinter unserer Stellung haben wir unsere Bereitschaftsstellung. Ein
kleines Waldtal, in dem furchtbare Nahkämpfe getobt haben. Baum und
Strauch sind von Granaten zerfetzt, mit Gewehrkugeln gespickt. Überall
liegen in den Wasserlöchern noch die Leichen, von denen wir schon viele
begraben haben. Zahllose Blindgänger von Granaten jeden Kalibers haben
sich in den Waldboden eingewühlt. Französische Ausrüstungsstücke sind in
Masse zu finden. In den einen Abhang der Schlucht haben wir unsere
Unterstände eingebaut: Erdhöhlen, gedielt, mit Dachpappe überdeckt und
kleinen Öfen versehen, die allerdings zum Erwärmen des Raumes nicht
ausreichen, wohl aber zum Erwärmen von Speisen, ja auch zum Kochen
nützlich sind. Da man sich naturgemäß in solcher Verwüstung der Natur
nicht wohlfühlen kann, haben wir ein wenig nachgeholfen. Zunächst einen
sauberen Knüppeldamm mit Geländer die Schlucht entlang gebaut, dann aus
einem nahen Kiefernwalde, der auch von Granaten geknickt war, die
schönsten Baumkronen herangeschleppt und einfach in der Schlucht neu
gepflanzt, allerdings ohne Wurzeln. Aber auf einen längeren Aufenthalt als
vier Wochen rechnen wir doch hier zunächst nicht, und solange bleiben sie
sicher grün. Aus den Gärten der zerschossenen Schlösser Hollebeeke und
Camp haben wir große Rhododendren, Buxbäume, Schneeglöckchen, Primeln
geholt und nette Beetchen angepflanzt. Das Bächlein, das den Grund
durchfließt, haben wir von allem Unrat gereinigt, geschickte Kameraden
haben kleine Dämme gezogen und niedliche Wassermühlen eingebaut, so
genannte Paroleuhren, die mit ihren Umdrehungen die Minuten zählen sollen,
die der Krieg noch währt. Ganze Weidenbüsche und Haselnusssträucher mit
hübschen Kätzchen und kleine Fichten haben wir mit Wurzeln angepflanzt, so
dass aus der traurigen Einöde ein Waldidyll geworden ist. Jeder Unterstand
trägt auf einem geschnitzten Brettchen einen Namen, der zur ganzen
Stimmung passt, wie "Villa Waldfrieden", "Das Herz am Rhein", "Adlerhorst"
usw. Zum Glück fehlen auch die Vöglein, besonders Drosseln, nicht, die
sich nun an das Pfeifen der Geschosse und das Einschlagen der Granaten
gewöhnt haben und uns morgens mit ihrem frohen Gezwitscher wecken.
(aus: Witkop, Erich (1933): Kriegsbriefe gefallener Studenten. München
1933, S. 47ff.., zit. n.:
http://users.telenet.be/aok4/briefe/dietz.htm 15.01.07)
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Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
09.10.2023