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Die
Nationalliberale Zeitung äußerte sich 1915 in folgender Art und
Weise über den geistigen und sittlichen Niedergang Frankreichs
1870-1915 (Auszüge):
"[...] Die kühnste deutsche Phantasie kann sich nicht die unflätige
Gemeinheit ausdeuten, die sich in den großen Blättern, den Reden von
Staatsmännern, Gelehrten, Schöngeistern, den Theaterstücken
berühmter, mehr oder weniger «unsterblicher» Dichter drüben breit
macht. Nur im stinkenden Rinnstein fühlen sich anscheinend
Frankreichs Intellektuelle noch wohl. Die Niedertracht und die
ohnmächtig geifernde Schimpfwut werden nur noch durch die
grenzenlose unheilbare Dummheit übertroffen, die sich in allen
diesen Geisteserzeugnissen kund tut. Die Franzosen berufen sich so
gern auf den Satz Goethes: «Wie hätte ich eine Nation hassen können,
die zu den kultiviertesten der Erde gehört, und der ich einen so
großen Teil meiner eigenen Bildung verdanke? «
Derselbe Goethe sagt aber gleich hinterher, dass der Nationalhass
auf den untersten Stufen der Kultur am heftigsten und stärksten sei;
er würde also heute die Franzosen auf die allerunterste Stufe der
Kultur verweisen, denn ein solcher Ausbruch von wirrsinnigem
Nationalhass ist überhaupt noch gar nicht dagewesen, und es ist kaum
ein Trost, wenn wir uns sagen müssen, dass diese ganze Raserei nur
durch die Lügen der Havas- und Reuteragentur und die rohe und ebenso
verlogene der poincaristischen1 Minister und
Regierungsblätter verursacht ist und weiter erhalten wird. Nur ein
Volk, das von allen guten Geister und allem guten Empfinden
verlassen ist, kann sich so von feilen Strebern und verbrecherischen
Demagogen an der Nase herumführen und ins Unglück stürzen lassen.
[...] Wie hoch standen noch vor vierundvierzig Jahren die geistigen
Führer Frankreichs über den heutigen Akademikern Poincaré2,
Ribot3, Cochin4, Barrès5, Bozin6,
Bergson7, Boutroux8, Lavedan9,
Prévost10, Rostand11, Richepin12.
Den Briefwechsel zwischen David Friedrich Strauß13 und
Ernest Renan14 [...] liest man fast mit Wehmut. Nur
Schmerz über das Schicksal, das die beiden Nationen auseinander
reißt, empfindet der Franzose; seine Bewunderung deutscher
Geistesarbeit bleibt unberührt.
Später hat Renan freilich in einer Akademierede den heimatlichen
Chauvinisten15 stark nachgegeben. Doch fühlte er, dass er
zu weit gegangen war, und in einem «Brief an einen deutschen Freund»
hat er manches zurückgenommen oder mildernd erläutert. [...] Renan
hofft da, dass «wir eines Tages aufs neue Mitarbeiter werden im
Streben nach all dem, was dem Leben Anmut, Heiterkeit, Glück
verleiht». Ähnlich wie Renan waren auch die Taine16,
Michelet17, Quinet18 usw. schmerzlich erregt
durch den Zusammenbruch aller deutsch-französischen
Verständigungshoffnungen. Aber nicht einer von diesen Denkern
erniedrigte sich zur Gassenjungensprache, in der sich heute
Frankreichs geistige Glorie gefällt. Anatole France, in dem wir
einen würdigen Schüler Renans gesehen hatten, schwatzt kritiklos die
Albernheiten nach, die zuerst von den «Temps»- und «Matin»-Leuten in
die Welt gefaselt sind. Die französischen Hochschulen und
Gelehrten-Körperschaften ergehen sich in den läppischsten
Beschimpfungen Deutschlands. Die Wissenschaft wird zur Magd
erniedrigt. [...]
Es wäre heute ja auch mit Lebensgefahr in Paris verknüpft, deutsche
Musik hören zu lassen. In der Belagerungszeit 1870/71 nahm kein
Patriot Anstoß an dem Vortrag Beethovenscher Symphonien, die heute
geächtet sind, obwohl man doch Beethoven feierlich als Belgier
abgestempelt hat. Fast ohne Ausnahme haben sich die französischen
Geistesgrößen dem Reigen der tollen Schimpf-Derwische angeschlossen;
und bisher scheint nur einer von seiner Verranntheit in etwas
zurückgekommen zu sein: Romain Rolland19. Ein Zeichen der
Gesundung des französischen Volkes vermögen wir aber noch nicht
darin zu erblicken, wenn dieser eine Romanschreiber nachträglich
seine ganz ungerechtfertigten Anklagen etwas abschwächt. [...]
Bei Kriegsbeginn herrschte bei uns noch eine merkwürdige
Voreingenommenheit zugunsten Frankreichs, in dem wir einen von
idealistischen Beweggründen geleiteten Feind achteten. Das Bild hat
sich nach und nach durch Frankreichs Gebaren vollständig verschoben.
In Gehässigkeit wetteifern unsere Gegner untereinander, und gewiss
sind England und Russland weit gefährlicher als Frankreich. Aber bei
den Engländern und Russen ist doch wenigstens hier und da eine
Stimme zu hören, die auf eine spätere ruhige Aussprache gewisse
schwache Hoffnungen setzen lässt. In Frankreich nichts von alledem.
Frankreich hat eine so anwidernde Niedrigkeit der Gesinnung an den
Tag gelegt, dass alle Hoffnung auf eine ferne Möglichkeit der
Verständigung ausgeschlossen ist. Wir werden mit dem alten Pufendorf20
von 1689 sagen müssen: «Wer es mit Frankreich hält, ist ein
offenbarer Verräter an seiner Nation».
(aus: Hannoverscher Kurier Nr. 31809 v. 4. 6. 1915, Auszug)
Worterklärungen
1Raymond
Poincaré (1860-1934)
französischer Politiker; mehrmals Ministerpräsident von Frankreich:
18.02.1913 bis 17.02.1920 Präsident Frankreichs
2Poincaré,
Jules Henri (1854 - 1912)
bedeutender französischer Mathematiker, theoretischer Physiker und
Philosoph
3Alexandre
Félix Joseph Ribot
(1842- 1923)
französischer Politiker; vom 6.12.1892 bis 20. 04 1893 Ministerpräsident
der Französischen Republik; 1909 Senator; Mitglied mehrerer französischer
Kabinetten während des ersten Weltkrieges; 1917 Ministerpräsident und
Außenminister
4Cochin,
Augustin (1876-1916)
französischer Historiker, 1916 für Frankreich im Ersten Weltkrieg gefallen
5Barrès,
Maurice (1862-1923)
französischer Schriftsteller und Politiker; u. a. Autor der Romantrilogie
Le Bastion d’Est (1913), die Geschichten beinhalten, die zahlreiche
nationalistisch-antideutsche Vorurteile und Ressentiments enthalten; im
Ersten Weltkrieg agiert er als politischer Scharfmacher mit einem
antideutschen Zeitungsartikel pro Tag; in den zwanziger Jahren des 19.
Jahrhunderts von pazifistischen, internationalistischen und
prokommunistischen linken Intellektuellen heftig angegriffen und als
Buhmann verhöhnt
6Ribot,
Théodule (1839-1916) franz.
Psychologe, 1888 Lehrstuhl für vergleichende und experimentale Psychologie
am Collège de France
7Bergson,
Henri-Louis (1859 - 1941)
französischer Philosoph und Nobelpreisträger für Literatur 1927;
bedeutendster Vertreter der Lebensphilosophie und Vorläufer des
Existenzialismus
8Boutroux,
Emile (1845–1921) französischer
Philosoph und Geschichtsphilosoph
9Lavedan,
Henri
(1859-1940) französischer
Dramatiker und Romancier
10Prévost,
Marcel (1862-1941),
französischer Schriftsteller
11Rostand,
Edmond Eugène Alexis (1868-1918)
französischer Dramatiker, u. a. Cyrano de Bergerac (1897)
12Richepin,
Jean (1849 - 1926)
französischer
Dramatiker und Romanschriftsteller
13Strauß,
David
Friedrich (1808
-1874) war ein
deutscher
Schriftsteller, Philosoph und Theologe
14Renan,
Ernest (1823-1892) französischer
Schriftsteller, Historiker, Archäologe, Religionswissenschaftler und
Orientalist. Mitglied der Académie française
15Chauvinist:
Anhänger eines extremen Nationalismus
16Taine,
Hippolyte Adolphe (1828-1893)
französischer Philosoph, Historiker und Kritiker. Mitglied der Académie
française (1878)
17Michelet,
Jules (1798-1874) bedeutender
französischer Historiker des 19. Jahrhunderts; patriotisch gesinnt und von
der Überlegenheit der „keltischen Rasse“ überzeugt
18Quinet,
Edgar (1803–1875) französischer
Historiker und Intellektueller
19Rolland,
Romain (1866-1944) französischer
Schriftsteller; 1915 Nobelpreis für Literatur
20Pufendorf,
Samuel von (1632-1694 in Berlin)
deutscher Naturrechtsphilosoph, Historiker, Natur- und Völkerrechtslehrer
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Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
09.10.2023