Home
Nach oben
Zurück
Weiter
 

 

Die politische oder bürgerliche Gesellschaft

John Locke (1632-1704)


87. Der Mensch ist, wie nachgewiesen wurde, mit einem Rechtsanspruch auf vollkommene Freiheit und auf den uneingeschränkten Genuss aller Rechte und Vorrechte des Naturgesetzes in Gleichheit mit jedem anderen Menschen oder jeglicher Anzahl von Menschen auf dieser Welt geboren. Er hat von Natur aus nicht nur die Macht, sein Eigentum - nämlich sein Leben, seine Freiheit und seinen Besitz - gegen die Schädigungen und Angriffe anderer Menschen zu schützen, sondern darüber hinaus, andere wegen der Verletzungen dieses Gesetzes zu verurteilen und sie so zu bestrafen, wie es seiner Überzeugung nach das Vergehen verdient - sogar mit dem Tode, wenn es Verbrechen sind, die ihm so abscheulich scheinen, dass sie den Tod verdienen. Da aber keine politische Gesellschaft bestehen und fortdauern kann, ohne dass es in ihr eine Gewalt gibt, das Eigentum zu schützen und zu diesem Zweck die Überschreitungen aller, die dieser Gesellschaft angehören, zu bestrafen, gibt es dort und dort allein politische Gesellschaft, wo jedes einzelne Mitglied seiner natürlichen Macht entsagt und für all die Fälle zugunsten der Gemeinschaft auf sie verzichtet hat, in denen es ihm nicht verwehrt ist, das von ihr geschaffene Gesetz zu seinem Schutz anzurufen. Auf diese Weise wird das Strafgericht der einzelnen Mitglieder beseitigt und die Gemeinschaft wird nach festen, beständigen Regeln zum unparteiischen Schiedsrichter für alle. Durch Männer, denen von der Gemeinschaft Autorität verliehen wurde, um jene Regeln zu vollziehen, entscheidet sie alle Streitigkeiten, die unter den Mitgliedern dieser Gesellschaft auftreten mögen, und ahndet gegen die Gemeinschaft gerichtete Vergehen irgendwelcher Mitglieder mit den von dem Gesetz vorgesehenen Strafen. Daran ist leicht zu erkennen, welche Menschen in einer politischen Gesellschaft zusammenleben und welche nicht. Diejenigen, die zu einem einzigen Körper vereinigt sind und allgemeine, feststehende Gesetzgebung und ein Gerichtswesen haben, das sie anrufen können und das Autorität besitzt, um Streitfälle zu entscheiden und Verbrecher zu strafen, leben in einer bürgerlichen Gesellschaft zusammen. Diejenigen aber, die keine solche gemeinsame Berufungsinstanz besitzen - zumindest nicht auf Erden -, befinden sich noch im Naturzustand: Ein jeder ist sein eigener Richter - da es keinen anderen Richter gibt - und zugleich auch Vollstrecker. Dies aber ist, wie ich schon früher gezeigt habe, der vollkommene Naturzustand.
88. So gelangt das Staatswesen zu einer Gewalt, für die jeweiligen Überschreitungen des Gesetzes - die unter den Mitgliedern jener Gesellschaft begangen werden - die Strafen festzusetzen, die man für angemessen hält, (zu der Gewalt also, Gesetze zu erlassen) und zugleich zu jener, jegliches Unrecht zu bestrafen, das einem der Mitglieder von jemandem zugefügt wird, der jener Gesellschaft nicht angehört (also zu der Gewalt über Krieg und Frieden); und dies alles zur Erhaltung des Eigentums aller Glieder dieser Gesellschaft - so weit es möglich ist. Hat nun auch jeder, der in die bürgerliche Gesellschaft eingetreten und Mitglied eines Staates geworden ist, dadurch seine Macht, Verbrechen gegen das Naturgesetz nach dem eigenen, persönlichen Urteil zu ahnden, von sich gegeben, so hat er doch dem Staat gleichzeitig mit der Urteilssprechung über die Vergehen - welche er der gesetzgebenden Gewalt für alle Fälle überantwortet hat, in denen er den obersten Gesetzgeber anrufen kann - auch das Recht übertragen, zur Vollstreckung der Urteile des Staates seine Kräfte in Anspruch zu nehmen, wann immer dies von ihm verlangt wird. [...]
89. Wo immer daher eine Anzahl von Menschen sich so zu einer Gesellschaft vereinigt hat, dass jeder seines Rechtes, das Naturgesetz zu vollstrecken, entsagt und zugunsten der Allgemeinheit darauf verzichtet, dort - und einzig dort entsteht eine politische oder bürgerliche Gesellschaft. Und das ist überall dort der Fall, wo eine Anzahl im Naturzustand lebender Menschen sich zu einer Gesellschaft vereinigt, um ein Volk, einen einzigen politischen Körper unter einer einzigen höchsten Regierung zu bilden - oder wo sich irgendjemand einer schon bestehenden Regierung anschließt und sich ihr einverleibt. Dadurch ermächtigt er die Gesellschaft oder - was dasselbe ist - die Legislative, ihm Gesetze zu geben, wie sie das öffentliche Wohl der Gesellschaft erfordert - Gesetze, zu deren Vollziehung beizutragen er verpflichtet ist (da sie als seine eigenen Beschlüsse gelten). Und dies versetzt die Menschen aus dem Naturzustand in ein Staatswesen: es wird ein Richter auf Erden eingesetzt, der Autorität besitzt, alle Streitfälle zu entscheiden und jegliches Unrecht zu sühnen, das irgendeinem Mitglied des Staates zugefügt wird. Dieser Richter ist die Legislative oder die von ihr ernannte Obrigkeit. Wo aber irgendeine Anzahl von Menschen, selbst wenn sie sich vereinigt haben, keine solche Gewalt, die sie anrufen können, besitzen, befinden sie sich noch im Naturzustand.
90. Hieraus geht deutlich hervor, dass die absolute Monarchie, die manche Menschen für die einzige Regierung der Welt halten, in Wahrheit mit bürgerlicher Gesellschaft unverträglich ist und deshalb keinerlei Art bürgerlicher Regierung sein kann. Denn das Ziel der bürgerlichen Gesellschaft ist es, jene Mängel des Naturzustandes, die die notwendige Folge sind, wenn ein jeder in eigener Sache Richter ist, zu vermeiden und ihnen abzuhelfen, indem eine allen bekannte Autorität eingesetzt wird, die jedes Mitglied der Gesellschaft anrufen kann, wenn es ein Unrecht erlitten hat oder wenn ein Streit entstanden ist, und der jeder in der Gesellschaft sich fügen muss.1 Wo immer Menschen ohne eine solche Autorität leben, die sie zur Entscheidung ihrer Streitigkeiten untereinander anrufen können, befinden sie sich noch immer im Naturzustand. Und im gleichen Zustand befindet sich auch jeder absolute Fürst gegenüber denjenigen, die unter seiner Herrschaft stehen.
91. Denn da man von ihm annimmt, dass er allein sowohl die legislative als auch die exekutive Gewalt in sich vereinigt, so ist kein Richter zu finden, den man anrufen könnte und der gerecht, unparteiisch und mit Autorität entscheiden könnte und von dessen Entscheid man sich bei jedwedem Unrecht oder Schaden, welche man von Seiten des Fürsten oder auf seinen Befehl hin erleidet, Abhilfe und Wiedergutmachung versprechen könnte. Ein solcher Mensch - man mag ihn Zar oder Grandseigneur oder sonst wie nennen - befindet sich denen gegenüber, die unter seiner Herrschaft leben, ganz so im Naturzustand wie gegenüber der übrigen Menschheit.[...] Es besteht allein folgender schmerzliche Unterschied für den Untertan oder vielmehr den Sklaven des absoluten Fürsten: Während er im gewöhnlichen Naturzustand die Freiheit hat, über sein Recht zu urteilen und dieses Recht nach besten Kräften zu behaupten, hat er jetzt, wenn nach dem Willen oder auf des Monarchen Befehl hin sein Eigentum angegriffen wird, nicht nur keine Berufungsmöglichkeit, wie es doch die Menschen in der Gesellschaft haben sollten, sondern er ist auch der Freiheit beraubt, über sein Recht zu urteilen und es zu verteidigen [...].
92. Wer nämlich glaubt, absolute Gewalt reinige der Menschen Blut und ändere etwas an der Niedrigkeit der menschlichen Natur, der braucht nur in der Geschichte des jetzigen oder irgendeines anderen Zeitalters nachzulesen, um von dem Gegenteil überzeugt zu werden.[…]
93. In einer absoluten Monarchie haben die Untertanen zwar wie unter jeder anderen Regierung der Welt eine Rechtsinstanz, die sie anrufen können, und Richter, welche ihre Streitfälle entscheiden und alle Gewalttätigkeit der Untertanen gegeneinander unterdrücken. Dies hält jeder für notwendig und glaubt auch, dass derjenige, der ihnen dies nehmen wollte, als ein erklärter Feind der Gesellschaft und der ganzen Menschheit angesehen werden müsste. Ob das aber auf eine wahre Liebe zur Menschheit und zur Gesellschaft zurückgeht und auf jene Nächstenliebe, die wir alle einander schulden, das ist mit gutem Grund zu bezweifeln. Denn es ist nicht mehr, als was jeder Mensch tun wird und von Natur her tun muss, wenn er seine eigene Gewalt, seinen Vorteil und seine Größe liebt: nämlich jene Arbeitstiere, die sich nur zu seinem Vergnügen und seinem Vorteil mühen und schinden, davon abzuhalten, sich gegenseitig zu schaden oder zu vernichten - und für die deshalb gesorgt wird, nicht aus irgendwelcher Liebe heraus, die der Herr für sie hegte, sondern aus Selbstliebe und des Vorteils wegen, den sie ihm schaffen. Denn wollte man fragen, welche Sicherung, welche Abschirmung es in jenem Zustand gegen die Gewalttätigkeit und Unterdrückung von Seiten dieses absoluten Herrschers gebe, so könnte sich schon die Frage kaum erheben. Man würde schnell erfahren, dass es den Tod verdiene, nach Sicherheit auch nur zu fragen. Für die Untertanen untereinander, das wird man zugestehen, muss es zwar um ihres gegenseitigen Friedens und ihrer Sicherheit willen Maßregeln, Gesetze und Richter geben. Der Herrscher aber, er muss absolut sein und steht über derlei Regelungen. Da er Macht hat, mehr Schaden und Unrecht zu tun, ist es auch Recht, wenn er es tut. Die Frage, wie man denn vor Schaden und Unrecht von Seiten der stärksten Hand, aus der man es empfangen kann, geschützt werden könne, gilt unverzüglich als die Stimme des Aufruhrs und der Rebellion. Als wenn die Menschen, als sie den Naturzustand verließen und in die Gesellschaft eintraten, übereingekommen wären, dass alle, mit Ausnahme eines einzigen, unter dem Zwang von Gesetzen stehen und dass er allein im Besitz aller Freiheit des Naturzustandes bleiben solle - die durch Gewalt noch vergrößert würde und der durch Straflosigkeit alle Zügel gelassen wären. [...]
94. [...]  Es mag nun zu Anfang […] irgendeinen guten und vortrefflichen Mann gegeben haben, der allen anderen überlegen war und dem sie seiner Güte und Tüchtigkeit wegen wie einer Art natürlicher Autorität Ehrerbietung erwiesen haben, so dass sie durch stillschweigendes Übereinkommen die oberste Leitung zusammen mit der Entscheidungsbefugnis über ihre Streitigkeiten in seine Hände legten, und zwar ohne eine andere Bürgschaft als ihre Überzeugung von seiner Geradheit und Weisheit. Die Zeit aber verlieh jenen Bräuchen, die man zu Anfang nachlässig und unbedacht in aller Unschuld hatte entstehen lassen, Autorität und machte sie (wie mancher uns einreden möchte) sogar heilig. Sie ließ Nachfolger von anderem Schlage auftreten, so dass das Volk unter einer solchen Regierung sein Eigentum nicht mehr wie damals für sicher hielt (alle Regierung aber hat kein anderes Ziel als die Erhaltung des Eigentums)3, und nicht mehr geschützt und in Ruhe leben noch sich in einer bürgerlichen Gesellschaft betrachten konnte, ehe nicht die legislative Gewalt einer kollektiven Körperschaft übertragen wurde - mag diese Senat, Parlament oder sonst wie heißen. Auf diese Weise wurde jeder Einzelne, der geringste Mann ebenso wie irgendein anderer, jenen Gesetzen untertan, die er selbst, ein Teil der Legislative, erlassen hatte. Und war das Gesetz einmal geschaffen, so konnte sich niemand kraft eigener Autorität der Gewalt des Gesetzes entziehen oder unter irgendeinem Vorwand der Überlegenheit Befreiung beanspruchen, um damit seine eigenen oder die Verfehlungen irgendwelcher seiner Anhänger zu sanktionieren. Niemand kann in einer bürgerlichen Gesellschaft von deren Gesetzen befreit werden.4  

1 Die öffentliche Gewalt einer jeden Gesellschaft steht über jedem Individuum dieser Gesellschaft. Und sie dient vor allem dazu, Gesetze zu geben für alle, die ihr unterstehen. Diesen Gesetzen müssen wir in denjenigen Fällen Gehorsam leisten, in denen nicht zwingend bewiesen werden kann, dass das Gesetz der Vernunft oder das Gesetz Gottes das Gegenteil befiehlt.. (Hooker, Eccl. Pol. lib. 1, sect. 16)

(aus: John Locke, Über die Regierung (The Second Treatise of Government, 1689), Stuttgart: Philipp Reclam 1981, übersetzt von Dorothee Tidow, S.65-73 )
  


   Arbeitsanregungen:
  1. Arbeiten Sie die Kritik von John Locke am Absolutismus heraus.

  2.  Zeigen Sie, wodurch sich seiner Auffassung nach die bürgerliche Gesellschaft davon unterscheidet.

   

                 
  Center-Map ] Überblick ] Textauswahl ] Links ins WWW ] Bausteine ]  
                       

          CC-Lizenz
 

 

Creative Commons Lizenzvertrag Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International License (CC-BY-SA) Dies gilt für alle Inhalte, sofern sie nicht von externen Quellen eingebunden werden oder anderweitig gekennzeichnet sind. Autor: Gert Egle/www.teachsam.de