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87. Der Mensch ist, wie nachgewiesen wurde, mit einem Rechtsanspruch auf
vollkommene Freiheit und auf den uneingeschränkten Genuss aller Rechte
und Vorrechte des Naturgesetzes in Gleichheit mit jedem anderen Menschen
oder jeglicher Anzahl von Menschen auf dieser Welt geboren. Er hat von
Natur aus nicht nur die Macht, sein Eigentum - nämlich sein Leben, seine
Freiheit und seinen Besitz - gegen die Schädigungen und Angriffe anderer
Menschen zu schützen, sondern darüber hinaus, andere wegen der
Verletzungen dieses Gesetzes zu verurteilen und sie so zu bestrafen, wie
es seiner Überzeugung nach das Vergehen verdient - sogar mit dem Tode,
wenn es
Verbrechen sind, die ihm so abscheulich scheinen, dass sie den Tod
verdienen. Da aber keine politische Gesellschaft bestehen und fortdauern
kann, ohne dass es in ihr eine Gewalt gibt, das Eigentum zu schützen und
zu diesem Zweck die Überschreitungen aller, die dieser Gesellschaft
angehören, zu bestrafen, gibt es dort und dort allein politische
Gesellschaft, wo jedes einzelne Mitglied seiner natürlichen Macht entsagt
und für all die Fälle zugunsten der Gemeinschaft auf sie verzichtet hat,
in denen es ihm nicht verwehrt ist, das von ihr geschaffene Gesetz zu
seinem Schutz anzurufen. Auf diese Weise wird das Strafgericht der
einzelnen Mitglieder beseitigt und die Gemeinschaft wird nach festen,
beständigen Regeln zum unparteiischen Schiedsrichter für alle. Durch
Männer, denen von der Gemeinschaft Autorität verliehen wurde, um jene
Regeln zu vollziehen, entscheidet sie alle Streitigkeiten, die unter den
Mitgliedern dieser Gesellschaft auftreten mögen, und ahndet gegen die
Gemeinschaft gerichtete Vergehen irgendwelcher Mitglieder mit den von dem
Gesetz vorgesehenen Strafen. Daran ist leicht zu erkennen, welche Menschen
in einer politischen Gesellschaft zusammenleben und welche nicht.
Diejenigen, die zu einem einzigen Körper vereinigt sind und allgemeine,
feststehende Gesetzgebung und ein Gerichtswesen haben, das sie anrufen
können und das Autorität besitzt, um Streitfälle zu entscheiden und
Verbrecher zu strafen, leben in einer bürgerlichen Gesellschaft zusammen.
Diejenigen aber, die keine solche gemeinsame Berufungsinstanz besitzen -
zumindest nicht auf Erden -, befinden sich noch im Naturzustand: Ein jeder
ist sein eigener Richter - da es keinen anderen Richter gibt - und
zugleich auch Vollstrecker. Dies aber ist, wie ich schon früher gezeigt
habe, der vollkommene Naturzustand.
88. So gelangt das Staatswesen zu einer Gewalt, für die jeweiligen
Überschreitungen des Gesetzes - die unter den Mitgliedern jener
Gesellschaft begangen werden - die Strafen festzusetzen, die man für
angemessen hält, (zu der Gewalt also, Gesetze zu erlassen) und zugleich
zu jener, jegliches Unrecht zu bestrafen, das einem der Mitglieder von
jemandem zugefügt wird, der jener Gesellschaft nicht angehört (also zu
der Gewalt über Krieg und Frieden); und dies alles zur Erhaltung des
Eigentums aller Glieder dieser Gesellschaft - so weit es möglich ist. Hat
nun auch jeder, der in die bürgerliche Gesellschaft eingetreten und
Mitglied eines Staates geworden ist, dadurch seine Macht, Verbrechen gegen
das Naturgesetz nach dem eigenen, persönlichen Urteil zu ahnden, von sich
gegeben, so hat er doch dem Staat gleichzeitig mit der Urteilssprechung
über die Vergehen - welche er der gesetzgebenden Gewalt für alle Fälle
überantwortet hat, in denen er den obersten Gesetzgeber anrufen kann -
auch das Recht übertragen, zur Vollstreckung der Urteile des Staates
seine Kräfte in Anspruch zu nehmen, wann immer dies von ihm verlangt
wird. [...]
89. Wo immer daher eine Anzahl von Menschen sich so zu einer Gesellschaft
vereinigt hat, dass jeder seines Rechtes, das Naturgesetz zu vollstrecken,
entsagt und zugunsten der Allgemeinheit darauf verzichtet, dort - und
einzig dort entsteht eine politische oder bürgerliche Gesellschaft. Und
das ist überall dort der Fall, wo eine Anzahl im Naturzustand lebender
Menschen sich zu einer Gesellschaft vereinigt, um ein Volk, einen einzigen
politischen Körper unter einer einzigen höchsten Regierung zu bilden -
oder wo sich irgendjemand einer schon bestehenden Regierung anschließt
und sich ihr einverleibt. Dadurch ermächtigt er die Gesellschaft oder -
was dasselbe ist - die Legislative, ihm Gesetze zu geben, wie sie das
öffentliche Wohl der Gesellschaft erfordert - Gesetze, zu deren
Vollziehung beizutragen er verpflichtet ist (da sie als seine eigenen
Beschlüsse gelten). Und dies versetzt die Menschen aus dem Naturzustand
in ein Staatswesen: es wird ein Richter auf Erden eingesetzt, der
Autorität besitzt, alle Streitfälle zu entscheiden und jegliches Unrecht
zu sühnen, das irgendeinem Mitglied des Staates zugefügt wird. Dieser
Richter ist die Legislative oder die von ihr ernannte Obrigkeit. Wo aber
irgendeine Anzahl von Menschen, selbst wenn sie sich vereinigt haben,
keine solche Gewalt, die sie anrufen können, besitzen, befinden sie sich
noch im Naturzustand.
90. Hieraus geht deutlich hervor, dass die absolute Monarchie, die manche
Menschen für die einzige Regierung der Welt halten, in Wahrheit mit
bürgerlicher Gesellschaft unverträglich ist und deshalb keinerlei Art
bürgerlicher Regierung sein kann. Denn das Ziel der bürgerlichen
Gesellschaft ist es, jene Mängel des Naturzustandes, die die notwendige
Folge sind, wenn ein jeder in eigener Sache Richter ist, zu vermeiden und
ihnen abzuhelfen, indem eine allen bekannte Autorität eingesetzt wird,
die jedes Mitglied der Gesellschaft anrufen kann, wenn es ein Unrecht
erlitten hat oder wenn ein Streit entstanden ist, und der jeder in der
Gesellschaft sich fügen muss.1 Wo
immer Menschen ohne eine solche Autorität leben, die sie zur Entscheidung
ihrer Streitigkeiten untereinander anrufen können, befinden sie sich noch
immer im Naturzustand. Und im gleichen Zustand befindet sich auch jeder
absolute Fürst gegenüber denjenigen, die unter seiner Herrschaft stehen.
91. Denn da man von ihm annimmt, dass er allein sowohl die legislative als
auch die exekutive Gewalt in sich vereinigt, so ist kein Richter zu
finden, den man anrufen könnte und der gerecht, unparteiisch und mit
Autorität entscheiden könnte und von dessen Entscheid man sich bei
jedwedem Unrecht oder Schaden, welche man von Seiten des Fürsten oder auf
seinen Befehl hin erleidet, Abhilfe und Wiedergutmachung versprechen
könnte. Ein solcher Mensch - man mag ihn Zar oder Grandseigneur oder
sonst wie nennen - befindet sich denen gegenüber, die unter seiner
Herrschaft leben, ganz so im Naturzustand wie gegenüber der übrigen
Menschheit.[...] Es besteht allein folgender schmerzliche Unterschied für den Untertan
oder vielmehr den Sklaven des absoluten Fürsten: Während er im
gewöhnlichen Naturzustand die Freiheit hat, über sein Recht zu urteilen
und dieses Recht nach besten Kräften zu behaupten, hat er jetzt, wenn
nach dem Willen oder auf des Monarchen Befehl hin sein Eigentum
angegriffen wird, nicht nur keine Berufungsmöglichkeit, wie es doch die
Menschen in der Gesellschaft haben sollten, sondern er ist auch der
Freiheit beraubt, über sein Recht zu urteilen und es zu verteidigen [...].
92. Wer nämlich glaubt, absolute Gewalt reinige der Menschen Blut und
ändere etwas an der Niedrigkeit der menschlichen Natur, der braucht nur
in der Geschichte des jetzigen oder irgendeines anderen Zeitalters
nachzulesen, um von dem Gegenteil überzeugt zu werden.[…]
93. In einer absoluten Monarchie haben die Untertanen zwar wie unter jeder
anderen Regierung der Welt eine Rechtsinstanz, die sie anrufen können,
und Richter, welche ihre Streitfälle entscheiden und alle
Gewalttätigkeit der Untertanen gegeneinander unterdrücken. Dies hält
jeder für notwendig und glaubt auch, dass derjenige, der ihnen dies
nehmen wollte, als ein erklärter Feind der Gesellschaft und der ganzen
Menschheit angesehen werden müsste. Ob das aber auf eine wahre Liebe zur
Menschheit und zur Gesellschaft zurückgeht und auf jene Nächstenliebe,
die wir alle einander schulden, das ist mit gutem Grund zu bezweifeln.
Denn es ist nicht mehr, als was jeder Mensch tun wird und von Natur her
tun muss, wenn er seine eigene Gewalt, seinen Vorteil und seine Größe
liebt: nämlich jene Arbeitstiere, die sich nur zu seinem Vergnügen und
seinem Vorteil mühen und schinden, davon abzuhalten, sich gegenseitig zu
schaden oder zu vernichten - und für die deshalb gesorgt wird, nicht aus
irgendwelcher Liebe heraus, die der Herr für sie hegte, sondern aus
Selbstliebe und des Vorteils wegen, den sie ihm schaffen. Denn wollte man
fragen, welche Sicherung, welche Abschirmung es in jenem Zustand gegen die
Gewalttätigkeit und Unterdrückung von Seiten dieses absoluten Herrschers
gebe, so könnte sich schon die Frage kaum erheben. Man würde schnell
erfahren, dass es den Tod verdiene, nach Sicherheit auch nur zu fragen.
Für die Untertanen untereinander, das wird man zugestehen, muss es zwar
um ihres gegenseitigen Friedens und ihrer Sicherheit willen Maßregeln,
Gesetze und Richter geben. Der Herrscher aber, er muss absolut sein und
steht über derlei Regelungen. Da er Macht hat, mehr Schaden und Unrecht
zu tun, ist es auch Recht, wenn er es tut. Die Frage, wie man denn vor
Schaden und Unrecht von Seiten der stärksten Hand, aus der man es
empfangen kann, geschützt werden könne, gilt unverzüglich als die
Stimme des Aufruhrs und der Rebellion. Als wenn die Menschen, als sie den
Naturzustand verließen und in die Gesellschaft eintraten,
übereingekommen wären, dass alle, mit Ausnahme eines einzigen, unter dem
Zwang von Gesetzen stehen und dass er allein im Besitz aller Freiheit des
Naturzustandes bleiben solle - die durch Gewalt noch vergrößert würde
und der durch Straflosigkeit alle Zügel gelassen wären. [...]
94. [...] Es mag nun zu Anfang
[…] irgendeinen guten und vortrefflichen Mann gegeben haben, der allen
anderen überlegen war und dem sie seiner Güte und Tüchtigkeit wegen wie
einer Art natürlicher Autorität Ehrerbietung erwiesen haben, so dass sie
durch stillschweigendes Übereinkommen die oberste Leitung zusammen mit
der Entscheidungsbefugnis über ihre Streitigkeiten in seine Hände
legten, und zwar ohne eine andere Bürgschaft als ihre Überzeugung von
seiner Geradheit und Weisheit. Die Zeit aber verlieh jenen Bräuchen, die
man zu Anfang nachlässig und unbedacht in aller Unschuld hatte entstehen
lassen, Autorität und machte sie (wie mancher uns einreden möchte) sogar
heilig. Sie ließ Nachfolger von anderem Schlage auftreten, so dass das
Volk unter einer solchen Regierung sein Eigentum nicht mehr wie damals
für sicher hielt (alle Regierung aber hat kein anderes Ziel als die
Erhaltung des Eigentums)3, und
nicht mehr geschützt und in Ruhe leben noch sich in einer bürgerlichen
Gesellschaft betrachten konnte, ehe nicht die legislative Gewalt einer
kollektiven Körperschaft übertragen wurde - mag diese Senat, Parlament
oder sonst wie heißen. Auf diese Weise wurde jeder Einzelne, der
geringste Mann ebenso wie irgendein anderer, jenen Gesetzen untertan, die
er selbst, ein Teil der Legislative, erlassen hatte. Und war das Gesetz
einmal geschaffen, so konnte sich niemand kraft eigener Autorität der
Gewalt des Gesetzes entziehen oder unter irgendeinem Vorwand der
Überlegenheit Befreiung beanspruchen, um damit seine eigenen oder die
Verfehlungen irgendwelcher seiner Anhänger zu sanktionieren. Niemand kann
in einer bürgerlichen Gesellschaft von deren Gesetzen befreit werden.4
1 Die
öffentliche Gewalt einer jeden Gesellschaft steht über jedem Individuum
dieser Gesellschaft. Und sie dient vor allem dazu, Gesetze zu geben für
alle, die ihr unterstehen. Diesen Gesetzen müssen wir in denjenigen
Fällen Gehorsam leisten, in denen nicht zwingend bewiesen werden kann,
dass das Gesetz der Vernunft oder das Gesetz Gottes das Gegenteil
befiehlt.. (Hooker, Eccl. Pol. lib. 1, sect. 16)
(aus: John Locke, Über die Regierung (The Second
Treatise of Government, 1689), Stuttgart: Philipp Reclam 1981, übersetzt
von Dorothee Tidow, S.65-73 )
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