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143. Die legislative Gewalt ist jene, die das Recht hat zu bestimmen, wie
die Macht des Staates zur Erhaltung der Gemeinschaft und ihrer Glieder
gebraucht werden soll. Da aber jene Gesetze, die laufend vollzogen und die
immer in Kraft bleiben sollen, während kurzer Zeit geschaffen werden
können, muss sich die Legislative nicht notwendig immer im Amt befinden,
weil sie nicht ständig beschäftigt ist. Bei der Schwäche der
menschlichen Natur, die stets bereit ist, nach der Macht zu greifen,
dürfte es jedoch eine zu große Versuchung darstellen, wenn dieselben
Personen, die die Macht haben, Gesetze zu geben, auch die Macht in der
Hand hätten, sie zu vollstrecken[...]. In wohl geordneten
Staatswesen, in denen nach Gebühr das Wohl des Ganzen berücksichtigt
wird, wird deshalb die legislative Gewalt in die Hände mehrerer Personen
gelegt, welche nach ordnungsgemäßer Versammlung selbst oder mit anderen
gemeinsam die Macht haben, Gesetze zu geben, sobald dies aber geschehen
ist, wieder auseinander gehen und selbst jenen Gesetzen unterworfen sind,
die sie geschaffen haben.[...]
144. Weil aber die Gesetze, die auf einmal und während kurzer Zeit
geschaffen worden sind, von beständiger und dauernder Gültigkeit sind
und fortwährend vollstreckt oder befolgt werden sollen, ist es notwendig,
dass es eine dauernd im Amte befindliche Gewalt gibt, die darauf zu achten
hat, dass die erlassenen und in Kraft bleibenden Gesetze vollzogen werden.
So geschieht es, dass die legislative und die exekutive Gewalt oftmals
getrennt sind.
145. Es gibt noch eine andere Gewalt in jedem Staat, die man natürlich
nennen könnte, weil sie jener Gewalt entspricht, die jeder Mensch von
Natur aus vor dem Eintritt in die Gesellschaft besaß. Obwohl nämlich in
einem Staatswesen die Mitglieder in ihrem Verhältnis zueinander immer
einzelne Personen bleiben und als solche auch kraft der Gesetze der
Gesellschaft regiert werden, bilden sie doch der übrigen Menschheit
gegenüber einen einzigen Körper, der sich, wie zuvor jedes seiner
Glieder, weiterhin der übrigen Menschheit gegenüber im Naturzustand
befindet. So kommt es, dass die Streitfälle, die zwischen den der
Gesellschaft Angehörigen und anderen auftreten, die sich außerhalb von
ihr befinden, von der Öffentlichkeit gehandhabt werden und das Unrecht
gegen eines der Glieder ihres Körpers die Gesamtheit zur Wiedergutmachung
verpflichtet. So betrachtet also, ist die ganze Gemeinschaft gegenüber
allen anderen Staaten oder Personen, die sich außerhalb ihrer
Gemeinschaft befinden, ein einziger Körper im Naturzustand.
146. Darin liegt deshalb die Gewalt über Krieg und Frieden, über
Bündnisse und alle Abmachungen mit allen Personen und Gemeinschaften
außerhalb des Staatswesens, und man kann, wenn man will, von einer
föderativen Gewalt sprechen. So man nur das Richtige darunter versteht,
soll mir der Name gleichgültig sein.
(aus: John Locke, Über die Regierung (The Second
Treatise of Government, 1689), Stuttgart: Philipp Reclam 1981, übersetzt
von Dorothee Tidow, S.111-112 )
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