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95. Die Menschen sind - wie schon gesagt wurde - von Natur alle frei,
gleich und unabhängig und niemand kann ohne seine Einwilligung aus diesem
Zustand verstoßen und der politischen Gewalt eines anderen unterworfen
werden. Die einzige Möglichkeit, diese natürliche Freiheit aufzugeben und
die Fesseln bürgerlicher Gesellschaft anzulegen, ist die, dass man mit
anderen Menschen übereinkommt, sich zusammenzuschließen und in eine
Gemeinschaft zu vereinigen, mit dem Ziel, behaglich, sicher und friedlich
miteinander zu leben - in dem sicheren Genuss des Eigentums
und
in größerer Sicherheit gegenüber allen, die ihr nicht angehören. Jede
beliebige Anzahl von Menschen kann dies tun, denn es verletzt nicht die
Freiheit der übrigen; diese verbleiben wie zuvor in der Freiheit des
Naturzustandes. Sobald eine Anzahl von Menschen auf diese Weise
übereingekommen ist, eine Gemeinschaft oder Regierung zu bilden, haben sie
sich ihr sogleich einverleibt und sie bilden einen einzigen politischen
Körper, in dem die Mehrheit das Recht hat, zu handeln und die übrigen
Glieder mit zu verpflichten.
96. Hat nämlich eine Anzahl von Menschen unter Zustimmung jedes Einzelnen
eine Gemeinschaft gebildet, dann haben sie diese Gemeinschaft zu einem
einzigen Körper gemacht, mit der Macht, wie ein einziger Körper zu
handeln, was allein durch den Willen und den Beschluss der Mehrheit
geschehen kann. Allein die Zustimmung der Individuen, die ihr angehören,
kann eine Gemeinschaft zum Handeln befähigen. Da sich ein einziger Körper
notwendigerweise nur in eine Richtung bewegen kann, muss sich der Körper
notwendigerweise auch dorthin bewegen, wohin ihn die größere Kraft treibt
- und das ist die Übereinkunft der Mehrheit. Anders kann sie unmöglich
handeln oder als ein einziger Körper oder eine einzige Gemeinschaft
handeln oder fortbestehen - wie es doch mit der Zustimmung jedes
Einzelwesens, das darin vereint ist, beschlossen war -, und daher ist ein
jeder durch diese Zustimmung verpflichtet, sich der Mehrheit zu
unterwerfen. [...]
97. Ein jeder also, der mit anderen übereinkommt, einen einzigen
politischen Körper unter einer Regierung zu bilden, verpflichtet sich
gegenüber jedem einzelnen dieser Gesellschaft, sich dem Beschluss der
Mehrheit zu unterwerfen und sich ihm zu fügen. Dieser ursprüngliche
Vertrag, durch den er sich mit anderen in eine Gesellschaft vereinigt,
würde ohne alle Bedeutung sein und kein Vertrag, wenn der Einzelne
weiterhin frei bliebe und unter keinen anderen Verpflichtungen stünde als
zuvor im Naturzustande. Denn was würde auf irgendeinen Vertrag hindeuten!
Welche neue Verpflichtung würde er eingehen, wenn er durch die Beschlüsse
dieser Gesellschaft nur so weit gebunden wäre, wie er selbst es für
angebracht hielte und er ihnen tatsächlich zustimmte.
Diese Freiheit wäre noch ebenso groß wie die, welche er vor seinem Vertrag
hatte oder wie sie irgendjemand sonst im Naturzustand hat, der sich
irgendwelchen Handlungen einer Gemeinschaft unterwerfen und ihnen
zustimmen mag, wenn es ihm nützlich scheint.[...]
99. Von allen Menschen, die sich aus dem Naturzustand zu einer
Gemeinschaft vereinigen, muss daher vorausgesetzt werden, dass sie die
ganz Gewalt, die für das Ziel ihrer Vereinigung in die Gesellschaft
notwendig ist, an die Mehrheit jener Gemeinschaft abtreten - es sei denn,
man hätte sich ausdrücklich auf eine größere Zahl als die Mehrheit
geeinigt. [...] So ist der Anfang und die tatsächliche Begründung einer
politischen Gesellschaft nichts anderes als die Übereinkunft einer der
Mehrheitsbildung fähigen Anzahl freier Menschen, sich zu vereinigen und
sich einer solchen Gesellschaft einzugliedern. Dies und einzig dies gab
oder vermochte den Anfang zu geben für jede rechtmäßige Regierung auf der
Welt.
100. Ich sehe, wie sich hier zweierlei Einwände erheben: Zum ersten, dass
man in der Geschichte keinerlei Beispiele dafür finden kann, dass sich
eine Gruppe unabhängiger und gleicher Menschen zusammentat und auf diese
Weise eine Regierung begründete und einsetzte.
Zum zweiten, dass die Menschen dies unmöglich von Rechts wegen tun
könnten: Da alle Menschen unter einer Regierung geboren sind, müssen sie
sich jener Regierung unterwerfen und haben nicht die Freiheit, eine neue
zu begründen.
101. Auf den ersten Einwand ist dies zu antworten: Es ist wenig
verwunderlich, wenn uns die Geschichte nur sehr spärlich von Menschen
berichtet, die im Naturzustande zusammenlebten. Die Unannehmlichkeiten
jenes Zustandes, die Liebe und das Verlangen nach der Gesellschaft hatten
kaum eine Anzahl von Menschen zusammengebracht, als sie sich auch schon
vereinigten und zu einem Körper verbanden, wenn sie die Absicht hatten,
zusammenzuleben. […] Die Regierung geht den Urkunden überall voraus und
Aufzeichnungen finden sich selten bei einem Volke, bevor es nicht lange
Zeit eine bürgerliche Gesellschaft gegeben hat, die durch andere,
notwendigere Künste für Sicherheit, Ruhe und Wohlstand der Menschen
gesorgt hat.[…]
(aus: John Locke, Über die Regierung (The Second Treatise of
Government, 1689), Stuttgart: Philipp Reclam 1981, übersetzt von Dorothee
Tidow, S.73-76 )
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