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Die Entstehung politischer Gesellschaften

John Locke (1632-1704)


95. Die Menschen sind - wie schon gesagt wurde - von Natur alle frei, gleich und unabhängig und niemand kann ohne seine Einwilligung aus diesem Zustand verstoßen und der politischen Gewalt eines anderen unterworfen werden. Die einzige Möglichkeit, diese natürliche Freiheit aufzugeben und die Fesseln bürgerlicher Gesellschaft anzulegen, ist die, dass man mit anderen Menschen übereinkommt, sich zusammenzuschließen und in eine Gemeinschaft zu vereinigen, mit dem Ziel, behaglich, sicher und friedlich miteinander zu leben - in dem sicheren Genuss des Eigentums und in größerer Sicherheit gegenüber allen, die ihr nicht angehören. Jede beliebige Anzahl von Menschen kann dies tun, denn es verletzt nicht die Freiheit der übrigen; diese verbleiben wie zuvor in der Freiheit des Naturzustandes. Sobald eine Anzahl von Menschen auf diese Weise übereingekommen ist, eine Gemeinschaft oder Regierung zu bilden, haben sie sich ihr sogleich einverleibt und sie bilden einen einzigen politischen Körper, in dem die Mehrheit das Recht hat, zu handeln und die übrigen Glieder mit zu verpflichten.
96. Hat nämlich eine Anzahl von Menschen unter Zustimmung jedes Einzelnen eine Gemeinschaft gebildet, dann haben sie diese Gemeinschaft zu einem einzigen Körper gemacht, mit der Macht, wie ein einziger Körper zu handeln, was allein durch den Willen und den Beschluss der Mehrheit geschehen kann. Allein die Zustimmung der Individuen, die ihr angehören, kann eine Gemeinschaft zum Handeln befähigen. Da sich ein einziger Körper notwendigerweise nur in eine Richtung bewegen kann, muss sich der Körper notwendigerweise auch dorthin bewegen, wohin ihn die größere Kraft treibt - und das ist die Übereinkunft der Mehrheit. Anders kann sie unmöglich handeln oder als ein einziger Körper oder eine einzige Gemeinschaft handeln oder fortbestehen - wie es doch mit der Zustimmung jedes Einzelwesens, das darin vereint ist, beschlossen war -, und daher ist ein jeder durch diese Zustimmung verpflichtet, sich der Mehrheit zu unterwerfen. [...]
97. Ein jeder also, der mit anderen übereinkommt, einen einzigen politischen Körper unter einer Regierung zu bilden, verpflichtet sich gegenüber jedem einzelnen dieser Gesellschaft, sich dem Beschluss der Mehrheit zu unterwerfen und sich ihm zu fügen. Dieser ursprüngliche Vertrag, durch den er sich mit anderen in eine Gesellschaft vereinigt, würde ohne alle Bedeutung sein und kein Vertrag, wenn der Einzelne weiterhin frei bliebe und unter keinen anderen Verpflichtungen stünde als zuvor im Naturzustande. Denn was würde auf irgendeinen Vertrag hindeuten! Welche neue Verpflichtung würde er eingehen, wenn er durch die Beschlüsse dieser Gesellschaft nur so weit gebunden wäre, wie er selbst es für angebracht hielte und er ihnen tatsächlich zustimmte.
Diese Freiheit wäre noch ebenso groß wie die, welche er vor seinem Vertrag hatte oder wie sie irgendjemand sonst im Naturzustand hat, der sich irgendwelchen Handlungen einer Gemeinschaft unterwerfen und ihnen zustimmen mag, wenn es ihm nützlich scheint.[...]
99. Von allen Menschen, die sich aus dem Naturzustand zu einer Gemeinschaft vereinigen, muss daher vorausgesetzt werden, dass sie die ganz Gewalt, die für das Ziel ihrer Vereinigung in die Gesellschaft notwendig ist, an die Mehrheit jener Gemeinschaft abtreten - es sei denn, man hätte sich ausdrücklich auf eine größere Zahl als die Mehrheit geeinigt. [...] So ist der Anfang und die tatsächliche Begründung einer politischen Gesellschaft nichts anderes als die Übereinkunft einer der Mehrheitsbildung fähigen Anzahl freier Menschen, sich zu vereinigen und sich einer solchen Gesellschaft einzugliedern. Dies und einzig dies gab oder vermochte den Anfang zu geben für jede rechtmäßige Regierung auf der Welt.
100. Ich sehe, wie sich hier zweierlei Einwände erheben: Zum ersten, dass man in der Geschichte keinerlei Beispiele dafür finden kann, dass sich eine Gruppe unabhängiger und gleicher Menschen zusammentat und auf diese Weise eine Regierung begründete und einsetzte.
Zum zweiten, dass die Menschen dies unmöglich von Rechts wegen tun könnten: Da alle Menschen unter einer Regierung geboren sind, müssen sie sich jener Regierung unterwerfen und haben nicht die Freiheit, eine neue zu begründen.
101. Auf den ersten Einwand ist dies zu antworten: Es ist wenig verwunderlich, wenn uns die Geschichte nur sehr spärlich von Menschen berichtet, die im Naturzustande zusammenlebten. Die Unannehmlichkeiten jenes Zustandes, die Liebe und das Verlangen nach der Gesellschaft hatten kaum eine Anzahl von Menschen zusammengebracht, als sie sich auch schon vereinigten und zu einem Körper verbanden, wenn sie die Absicht hatten, zusammenzuleben. […] Die Regierung geht den Urkunden überall voraus und Aufzeichnungen finden sich selten bei einem Volke, bevor es nicht lange Zeit eine bürgerliche Gesellschaft gegeben hat, die durch andere, notwendigere Künste für Sicherheit, Ruhe und Wohlstand der Menschen gesorgt hat.[…]

(aus: John Locke, Über die Regierung  (The Second Treatise of Government, 1689), Stuttgart: Philipp Reclam 1981, übersetzt von Dorothee Tidow, S.73-76 )
 


   Arbeitsanregungen:
  1. Arbeiten Sie heraus, welche Bedeutung das Mehrheitsprinzip nach John Locke für die bürgerliche Gesellschaft besitzt.

  2. Ist das Mehrheitsprinzip für den Einzelnen Ihrer Auffassung nach immer gültig? - Erörtern Sie die Problematik an selbst gewählten Beispielen aus der aktuellen Politik.
     

                 
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