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221. So gibt es zum zweiten noch einen anderen Weg, wie Regierungen
aufgelöst werden können - nämlich, wenn die Legislative oder der Fürst
wider das in sie gesetzte Vertrauen handelt.
Zunächst handelt die Legislative dem in sie gelegten Vertrauen entgegen,
wenn sie versucht, sich an dem Eigentum der Untertanen zu vergreifen und
sich selbst oder irgendeinen Teil der Gemeinschaft zum Herrn oder
willkürlichen Gebieter über Leben, Freiheit und Vermögen des Volkes zu
machen.
222. Der Grund, aus dem die Menschen in die Gesellschaft eintreten, ist
die Erhaltung ihres Eigentums und das Ziel, um dessentwillen sie eine
Legislative wählen und ihr Autorität verleihen, ist, dass Gesetze und
Vorschriften geschaffen werden, um über das Eigentum aller Glieder der
Gesellschaft zu wachen und es zu schützen und so die Macht und die
Herrschaft jedes Teiles oder Gliedes der Gesellschaft zu beschränken und
zu mäßigen. [...] Wann immer deshalb die Gesetzgeber danach
trachten, dem Volk sein Eigentum zu nehmen oder zu zerstören oder es als
Sklaven in ihre willkürliche Gewalt zu bringen, versetzen sie sich dem
Volk gegenüber in den Kriegszustand. Dadurch ist es jeden weiteren
Gehorsams entbunden und der gemeinsamen Zuflucht überlassen, die Gott
für alle Menschen gegen Macht und Gewalt vorgesehen hat. Wann immer daher
die Legislative dieses grundlegende Gesetz der Gesellschaft überschreiten
und aus Ehrsucht, Furcht, Torheit oder Verderbtheit den Versuch
unternehmen sollte, entweder selbst absolute Gewalt über Leben, Freiheit
und Besitz des Volkes an sich zu reißen oder sie in die Hände eines
anderen zu legen, verwirkt sie durch einen solchen Vertrauensbruch jene
Macht, die das Volk mit weit anderen Zielen in ihre Hände gegeben hatte,
und die Macht fällt zurück an das Volk, das dann ein Recht hat, zu
seiner ursprünglichen Freiheit zurückzukehren und durch die Errichtung
einer neuen Legislative (wie sie ihm selbst am geeignetsten erscheint)
für seine eigene Sicherheit und seinen Schutz zu sorgen - denn zu diesem
Ziel befinden sie sich in der Gesellschaft. Was ich hier über die
Legislative im Allgemeinen gesagt habe, gilt auch von dem höchsten
Träger der Exekutive. Da man in ihn ein zweifaches Vertrauen gesetzt hat,
einmal als Teil der Legislative und zum anderen durch die höchste
Vollziehung der Gesetze, handelt er beidem zuwider, wenn er sich
unterfängt, den eigenen Willen nach Belieben zum Gesetz der Gesellschaft
zu erheben. Ebenfalls wider das in ihn gesetzte Vertrauen handelt er, wenn
er entweder die Staatsgewalt, den Staatsschatz oder die Ämter der
Gesellschaft dazu benützt, die Abgeordneten zu bestechen und für seine
Absichten zu gewinnen, oder aber wenn er offensichtlich die Wähler
beeinflusst und ihrer Wahl Männer vorschreibt, die er sich durch
dringende Vorstellungen, Drohungen, Versprechungen oder sonst wie
willfährig gemacht hat und die er gebraucht, um andere durchzubringen,
die ihm im Voraus versprochen haben, wofür sie stimmen und was sie
beschließen werden. [...]
223. Hier wird man vielleicht einwenden, dass das Volk unwissend sei und
immer unzufrieden; wenn man daher die Grundlage der Regierung in die
unbeständige Meinung und den Wankelmut des Volkes lege, so liefere man es
dem sicheren Verderben aus. Auch werde keine Regierung lange bestehen
können, wenn das Volk eine neue Legislative einsetzen darf, wann immer es
an der alten Anstoß nimmt. Darauf antworte ich: Ganz im Gegenteil, das
Volk lässt sich nicht so leicht aus seinen alten Formen lösen, wie
mancher uns gerne einreden möchte. Es lässt sich kaum dazu bewegen, den
anerkannten Missständen im Rahmen des Gewohnten Abhilfe zu schaffen.
[...]
224. Man wird jedoch sagen: Diese Hypothese enthält einen Gärstoff
häufiger Rebellion. Darauf ist meine Antwort:
Zum ersten: Nicht mehr als irgendeine andere Hypothese. Denn wenn das Volk
ins Elend gebracht wird und sich dem Missbrauch willkürlicher Gewalt
ausgesetzt sieht, so mögt ihr seine Regierenden, so viel ihr wollt, die
Kinder des Jupiter nennen, lasst sie geheiligt und göttlich sein,
abstammend oder bevollmächtigt vom Himmel, gebt sie aus, für wen oder
was ihr wollt, es wird doch immer dasselbe geschehen. Das allgemein und
wider alles Recht misshandelte Volk wird bei jeder Gelegenheit bereit
sein, sich von der Bürde zu befreien, die schwer auf ihm lastet. [...]
225. Zum zweiten , antworte ich, kommt es zu solchen Revolutionen nicht
bei jeder kleinen Fehlhandlung in öffentlichen Angelegenheiten. […]
226. Zum dritten antworte ich: Diese Lehre von einer Gewalt im Volke,
durch eine neue Legislative wieder von Neuem für seine Sicherheit zu
sorgen, wenn seine Gesetzgeber auf sein Eigentum übergegriffen und damit
entgegen dem in sie gesetzten Vertrauen gehandelt haben, ist der beste
Schutz gegen Rebellion und das sicherste Mittel, sie zu verhindern.
(aus: John Locke, Über die Regierung (The Second
Treatise of Government, 1689), Stuttgart: Philipp Reclam 1981, übersetzt
von Dorothee Tidow, S.166-170 )
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