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Der Naturzustand

John Locke (1632-1704)


4. Um politische Gewalt richtig zu verstehen und sie von ihrem Ursprung herzuleiten, müssen wir sehen, in welchem Zustand sich die Menschen von Natur aus befinden. Es ist ein Zustand vollkommener Freiheit, innerhalb der Grenzen des Naturgesetzes seine Handlungen zu lenken und über seinen Besitz und seine Person zu verfügen, wie es einem am besten scheint - ohne jemandes Erlaubnis einzuholen und ohne von dem Willen eines anderen abhängig zu sein.
Es ist überdies ein Zustand der Gleichheit, in dem alle Macht und Rechtsprechung wechselseitig sind, da niemand mehr besitzt als ein anderer: Ist doch nichts offensichtlicher, als dass Lebewesen von gleicher Art und gleichem Rang, die unterschiedslos zum Genuss derselben Vorteile der Natur und zum Gebrauch der gleichen Fähigkeiten geboren sind, auch gleich gestellt leben sollen, ohne Unterordnung oder Unterwerfung - es sei denn, ihrer aller Herr und Meister würde in einer offensichtlichen Willensäußerung den einen über den anderen setzen und ihm durch eine offenkundige und klare Ernennung ein unzweifelhaftes Recht auf Herrschaft und Souveränität verleihen. […]
6. Ist dies zwar ein Zustand der Freiheit, so ist es doch nicht ein Zustand der Zügellosigkeit: Obwohl der Mensch in diesem Zustand die unkontrollierbare Freiheit besitzt, über seine Person und seinen Besitz zu verfügen, hat er doch nicht die Freiheit, sich selbst oder irgendein in seinem Besitz befindliches Lebewesen zu zerstören, es sei denn, ein edlerer Zweck als die bloße Erhaltung erfordere es. Im Naturzustand herrscht ein natürliches Gesetz, das für alle verbindlich ist. Die Vernunft aber, welcher dieses Gesetz entspringt, lehrt alle Menschen, wenn sie sie nur um Rat fragen wollen, dass niemand einem anderen, da alle gleich und unabhängig sind, an seinem Leben, seiner Gesundheit, seiner Freiheit oder seinem Besitz Schaden zufügen soll. Alle Menschen nämlich sind das Werk eines einzigen allmächtigen und unendlich weisen Schöpfers, die Diener eines einzigen souveränen Herrn, auf dessen Befehl und in dessen Auftrag sie in die Welt gesandt wurden. [...] Und da uns allen die gleichen Fähigkeiten verliehen wurden und wir alle Glieder einer einzigen Gemeinschaft, der der Natur, sind, kann nicht angenommen werden, dass uns irgendeine Rangordnung unter uns dazu ermächtigt, einander zu zerstören, als wären wir einer zu des anderen Nutzen geschaffen, so wie die untergeordneten Lebewesen zu unserem Nutzen geschaffen sind. [...]
7. Damit nun die Menschen davon abgehalten werden, sich gegenseitig in ihren Rechten zu beeinträchtigen und einander Schaden zuzufügen, und damit das Naturgesetz beobachtet werde, das den Frieden und die Erhaltung der ganzen Menschheit verlangt, so ist in jenem Zustand die Vollstreckung des Naturgesetzes in die Hand aller gegeben. Ein jeder hat somit das Recht, diejenigen, die das Gesetz überschreiten, in dem Maße zu strafen, wie es nötig ist, eine neue Verletzung zu verhindern. Denn gleich allen anderen die Menschen dieser Welt betreffenden Gesetzen wäre das Naturgesetz nichtig, wenn im Naturzustand niemand die Macht hätte, dieses Gesetz zu vollstrecken, um den Unschuldigen zu schützen und den, der es überschreitet, in Schranken zu halten. Wenn aber jeder Einzelne im Naturzustand einen anderen für jedes von ihm begangene Unrecht bestrafen kann, so können es alle tun. [...]
8. So kann es im Naturzustande geschehen, dass ein Mensch über einen anderen Macht erlangt. Er hat jedoch keine absolute und willkürliche Macht, einen Verbrecher, wenn er ihn in seine Hände bekommen hat, so zu behandeln, wie es ihm seine hitzige Leidenschaft oder die grenzenlose Zügellosigkeit seines Willens eingeben, sondern er hat einzig die Macht, nach dem Urteil ruhiger Überlegung und nach der Sprache seines Gewissens im Verhältnis zu der Schwere seines Vergehens Vergeltung an ihm zu üben, d.h. in dem Maße, wie es der Wiedergutmachung und Abschreckung dient. Nur zu diesen beiden Zwecken nämlich darf ein Mensch einem anderen rechtmäßig Schaden zufügen. Wir nennen dies Strafe. [...] In diesem Fall also und aus diesem Grunde hat ein jeder das Recht, den Übeltäter zu bestrafen und somit das Naturgesetz zu vollstrecken.
[...]
10. Abgesehen von dem Verbrechen der Gesetzesverletzung und des Abweichens von den rechten Vorschriften der Vernunft - wodurch ein Mensch entartet, sich von den Prinzipien der menschlichen Natur lossagt und erklärt, ein schädliches Wesen zu sein -, wird gemeinhin durch die Überschreitung des Gesetzes irgendwelchen Menschen ein Unrecht zugefügt und irgendeinem anderen entsteht ein Schaden. In diesem Fall erhält derjenige, der irgendwelchen Schaden erlitten hat, zu jenem Recht auf Strafe, das ihm mit allen anderen Menschen gemein ist, noch ein besonderes Recht, welches ihm erlaubt, von dem, der ihm den Schaden zugefügt bat, Wiedergutmachung zu verlangen. Jeder andere, der es für richtig hält, mag sich darüber hinaus mit dem Geschädigten verbinden und ihm helfen, von dem Übeltäter so viel wiederzuerlangen, wie es der Wiedergutmachung für den erlittenen Schaden dient.
11. Diese beiden gesonderten Rechte - auf der einen Seite das allen gemeinsame Recht, zu bestrafen, um abzuschrecken und einem ähnlichen Vergehen vorzubeugen, auf der anderen Seite das Recht auf Wiedergutmachung, das nur dem geschädigten Teil zusteht - können es der Obrigkeit, der eben als der Obrigkeit das allgemeine Recht zu strafen zukommt, bei kriminellen Handlungen, wenn nicht das öffentliche Wohl die Vollstreckung des Gesetzes verlangt, oftmals erlauben, kraft ihrer Autorität die Strafe zu erlassen. Nicht erlassen aber kann sie die Entschädigung, auf die ein Privatmann Anspruch hat, wenn er einen Schaden erlitten hat. Eine solche Entschädigung in eigenem Namen zu fordern ist das Recht des Geschädigten und nur er allein kann sie erlassen. Diese Gewalt, den Besitz oder die Dienstleistungen des Rechtsbrechers zu beanspruchen, hat die geschädigte Person kraft ihres Rechtes auf Selbsterhaltung [...].
12. [...] Jede Überschreitung des Gesetzes mag in dem Maße und mit so viel Strenge bestraft werden, wie erforderlich ist, den Rechtsbrecher seine Tat teuer bezahlen zu lassen und ihn zur Reue zu bewegen - und zugleich andere von ähnlichen Taten abzuschrecken. Jedes Verbrechen, das im Naturzustand begangen werden kann, kann im Naturzustand auch ebenso und mit derselben Strenge bestraft werden wie in einem Staatswesen. [...] Denn gerade so verhält es sich mit einem Großteil der jeweiligen staatlichen Gesetze, die nur in so weit gerecht sind, als sie im Naturgesetz gründen, nach welchem sie auszurichten und auszulegen sind.
13. Jener eigenartigen Lehre, dass im Naturzustand ein jeder die vollstreckende Gewalt des Naturgesetzes innehabe, wird man sicherlich entgegenhalten, es sei nicht vernünftig, dass die Menschen in eigener Sache Richter seien, die Eigenliebe werde sie sich selbst und ihren Freunden gegenüber parteiisch machen. Auf der anderen Seite ließen sie ihre Bosheit, Leidenschaft und Rachsucht in der Bestrafung anderer das rechte Maß überschreiten, so dass nichts als Verwirrung und Unordnung die Folge sein werde - und Gott habe sicherlich Regierungen eingesetzt, um der Menschen Parteilichkeit und Gewalttätigkeit in Schranken zu halten. Ich will gern zugeben, dass eine bürgerliche Regierung das geeignete Heilmittel ist gegen die Unbilden des Naturzustandes - die gewiss groß sein müssen, wo Menschen in eigener Sache Richter sind. [...] Ich möchte aber die bitten, die diesen Einwand machen, sich zu erinnern, dass auch absolute Monarchen nur Menschen sind. Wenn Regierung das Heilmittel für jene Übel sein soll, die sich als unmittelbare Folge ergeben, wenn Menschen in eigener Sache Richter sind - was den Naturzustand so unerträglich macht -, so möchte ich gerne wissen, wie jene Regierung aussieht und inwieweit sie besser ist als der Naturzustand, in welcher ein einziger, der über eine große Anzahl von Menschen gebietet, die Freiheit hat, sein eigener Richter zu sein und mit allen seinen Untertanen zu tun, was ihm gefällt, ohne dass irgendjemand die geringste Freiheit hätte, von denjenigen Rechenschaft zu fordern oder über sie Kontrolle zu üben, die ausführen, was ihm beliebt! Wenn man sich fügen muss, was immer er tun mag, ganz gleich, ob ihn Vernunft, ein Irrtum oder seine Leidenschaft leitet! Bei weitem besser haben es die Menschen im Naturzustand, wo sie nicht gezwungen sind, sich eines anderen ungerechtem Willen zu unterwerfen: wer in eigener oder fremder Sache fehlurteilt, ist der ganzen Menschheit dafür verantwortlich.
14. Es wird oft als gewichtiger Einwand die Frage erhoben: Wo sind oder wo haben sich jemals Menschen in einem solchen Naturzustande befunden? Als vorläufige Antwort darauf mag es genug sein, hier anzuführen, dass ganz offensichtlich, da sich doch alle Fürsten und Herrscher unabhängiger Regierungen in der ganzen Welt im Naturzustande befinden, die Welt niemals ohne eine Anzahl von Menschen in jenem Zustande war noch sein wird. Ich habe gesagt, alle Regierenden unabhängiger Gemeinschaften - ob sie mit anderen verbündet sind oder nicht. Nicht jeder Vertrag nämlich setzt dem Naturzustand unter den Menschen ein Ende, sondern nur jener, in welchem sie gegenseitig übereinkommen, in eine Gemeinschaft einzutreten und einen politischen Körper zu bilden. Man mag sich andere Versprechen geben untereinander und andere Verträge eingehen und dennoch im Naturzustand verbleiben. [...]
15. [...] Ich will vielmehr darüber hinaus behaupten, dass sich alle Menschen von Natur her in jenem Zustand befinden und dass sie darin verbleiben, bis sie sich selbst kraft ihrer eigenen Zustimmung zu Gliedern einer politischen Gesellschaft machen.

(aus: John Locke, Über die Regierung (The Second Treatise of Government, 1689), Stuttgart: Philipp Reclam 1981, übersetzt von Dorothee Tidow, S.4 - 14 )
 


   Arbeitsanregungen:
  1. Untersuchen Sie, wodurch nach John Locke der Naturzustand des Menschen gekennzeichnet ist.

  2. Zeigen Sie dabei auf, welche Gesetze den Naturzustand regieren.

  3. Erläutern Sie dabei, welcher Art ein Vertrag sein muss, der diesem Naturzustand ein Ende setzen kann.
     

                 
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