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Der
Naturzustand
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4. Um politische Gewalt richtig zu verstehen und sie von ihrem Ursprung
herzuleiten, müssen wir sehen, in welchem Zustand sich die Menschen von
Natur aus befinden. Es ist ein Zustand vollkommener Freiheit, innerhalb
der Grenzen des Naturgesetzes seine Handlungen zu lenken und über seinen
Besitz und seine Person zu verfügen, wie es einem am besten scheint -
ohne jemandes Erlaubnis einzuholen und ohne von dem Willen eines anderen
abhängig zu sein.
Es ist überdies ein Zustand der Gleichheit, in dem alle Macht und
Rechtsprechung wechselseitig sind, da niemand mehr besitzt als ein
anderer: Ist doch nichts offensichtlicher, als dass Lebewesen von gleicher
Art und gleichem Rang, die unterschiedslos zum Genuss derselben Vorteile
der Natur und zum Gebrauch der gleichen Fähigkeiten geboren sind, auch
gleich gestellt leben sollen, ohne Unterordnung oder Unterwerfung - es sei
denn, ihrer aller Herr und Meister würde in einer offensichtlichen
Willensäußerung den einen über den anderen setzen und ihm durch eine
offenkundige und klare Ernennung ein unzweifelhaftes Recht auf Herrschaft
und Souveränität verleihen. […]
6. Ist dies zwar ein Zustand der Freiheit, so ist es doch nicht ein
Zustand der Zügellosigkeit: Obwohl der Mensch in diesem Zustand die
unkontrollierbare Freiheit besitzt, über seine Person und seinen Besitz
zu verfügen, hat er doch nicht die Freiheit, sich selbst oder irgendein
in seinem Besitz befindliches Lebewesen zu zerstören, es sei denn, ein
edlerer Zweck als die bloße Erhaltung erfordere es. Im Naturzustand
herrscht ein natürliches Gesetz, das für alle verbindlich ist. Die
Vernunft aber, welcher dieses Gesetz entspringt, lehrt alle Menschen, wenn
sie sie nur um Rat fragen wollen, dass niemand einem anderen, da alle
gleich und unabhängig sind, an seinem Leben, seiner Gesundheit, seiner
Freiheit oder seinem Besitz Schaden zufügen soll. Alle Menschen nämlich
sind das Werk eines einzigen allmächtigen und unendlich weisen
Schöpfers, die Diener eines einzigen souveränen Herrn, auf dessen Befehl
und in dessen Auftrag sie in die Welt gesandt wurden. [...] Und da uns allen die gleichen Fähigkeiten verliehen wurden und
wir alle Glieder einer einzigen Gemeinschaft, der der Natur, sind, kann
nicht angenommen werden, dass uns irgendeine Rangordnung unter uns dazu
ermächtigt, einander zu zerstören, als wären wir einer zu des anderen
Nutzen geschaffen, so wie die untergeordneten Lebewesen zu unserem Nutzen
geschaffen sind. [...]
7. Damit nun die Menschen davon abgehalten werden, sich gegenseitig in
ihren Rechten zu beeinträchtigen und einander Schaden zuzufügen, und
damit das Naturgesetz beobachtet werde, das den Frieden und die Erhaltung
der ganzen Menschheit verlangt, so ist in jenem Zustand die Vollstreckung
des Naturgesetzes in die Hand aller gegeben. Ein jeder hat somit das
Recht, diejenigen, die das Gesetz überschreiten, in dem Maße zu strafen,
wie es nötig ist, eine neue Verletzung zu verhindern. Denn gleich allen
anderen die Menschen dieser Welt betreffenden Gesetzen wäre das
Naturgesetz nichtig, wenn im Naturzustand niemand die Macht hätte, dieses
Gesetz zu vollstrecken, um den Unschuldigen zu schützen und den, der es
überschreitet, in Schranken zu halten. Wenn aber jeder Einzelne im
Naturzustand einen anderen für jedes von ihm begangene Unrecht bestrafen
kann, so können es alle tun. [...]
8. So kann es im Naturzustande geschehen, dass ein Mensch über einen
anderen Macht erlangt. Er hat jedoch keine absolute und willkürliche
Macht, einen Verbrecher, wenn er ihn in seine Hände bekommen hat, so zu
behandeln, wie es ihm seine hitzige Leidenschaft oder die grenzenlose
Zügellosigkeit seines Willens eingeben, sondern er hat einzig die Macht,
nach dem Urteil ruhiger Überlegung und nach der Sprache seines Gewissens
im Verhältnis zu der Schwere seines Vergehens Vergeltung an ihm zu üben,
d.h. in dem Maße, wie es der Wiedergutmachung und Abschreckung dient. Nur
zu diesen beiden Zwecken nämlich darf ein Mensch einem anderen
rechtmäßig Schaden zufügen. Wir nennen dies Strafe. [...] In diesem Fall also und aus diesem Grunde hat
ein jeder das Recht, den Übeltäter zu bestrafen und somit das
Naturgesetz zu vollstrecken.
[...]
10. Abgesehen von dem Verbrechen der Gesetzesverletzung und des Abweichens
von den rechten Vorschriften der Vernunft - wodurch ein Mensch entartet,
sich von den Prinzipien der menschlichen Natur lossagt und erklärt, ein
schädliches Wesen zu sein -, wird gemeinhin durch die Überschreitung des
Gesetzes irgendwelchen Menschen ein Unrecht zugefügt und irgendeinem
anderen entsteht ein Schaden. In diesem Fall erhält derjenige, der
irgendwelchen Schaden erlitten hat, zu jenem Recht auf Strafe, das ihm mit
allen anderen Menschen gemein ist, noch ein besonderes Recht, welches ihm
erlaubt, von dem, der ihm den Schaden zugefügt bat, Wiedergutmachung zu
verlangen. Jeder andere, der es für richtig hält, mag sich darüber
hinaus mit dem Geschädigten verbinden und ihm helfen, von dem Übeltäter
so viel wiederzuerlangen, wie es der Wiedergutmachung für den erlittenen
Schaden dient.
11. Diese beiden gesonderten Rechte - auf der einen Seite das allen
gemeinsame Recht, zu bestrafen, um abzuschrecken und einem ähnlichen
Vergehen vorzubeugen, auf der anderen Seite das Recht auf
Wiedergutmachung, das nur dem geschädigten Teil zusteht - können es der
Obrigkeit, der eben als der Obrigkeit das allgemeine Recht zu strafen
zukommt, bei kriminellen Handlungen, wenn nicht das öffentliche Wohl die
Vollstreckung des Gesetzes verlangt, oftmals erlauben, kraft ihrer
Autorität die Strafe zu erlassen. Nicht erlassen aber kann sie die
Entschädigung, auf die ein Privatmann Anspruch hat, wenn er einen Schaden
erlitten hat. Eine solche Entschädigung in eigenem Namen zu fordern ist
das Recht des Geschädigten und nur er allein kann sie erlassen. Diese
Gewalt, den Besitz oder die Dienstleistungen des Rechtsbrechers zu
beanspruchen, hat die geschädigte Person kraft ihres Rechtes auf
Selbsterhaltung [...].
12. [...] Jede Überschreitung des Gesetzes
mag in dem Maße und mit so viel Strenge bestraft werden, wie erforderlich
ist, den Rechtsbrecher seine Tat teuer bezahlen zu lassen und ihn zur Reue
zu bewegen - und zugleich andere von ähnlichen Taten abzuschrecken. Jedes
Verbrechen, das im Naturzustand begangen werden kann, kann im Naturzustand
auch ebenso und mit derselben Strenge bestraft werden wie in einem
Staatswesen. [...] Denn gerade so verhält es sich mit einem
Großteil der jeweiligen staatlichen Gesetze, die nur in so weit gerecht
sind, als sie im Naturgesetz gründen, nach welchem sie auszurichten und
auszulegen sind.
13. Jener eigenartigen Lehre, dass im Naturzustand ein jeder die
vollstreckende Gewalt des Naturgesetzes innehabe, wird man sicherlich
entgegenhalten, es sei nicht vernünftig, dass die Menschen in eigener
Sache Richter seien, die Eigenliebe werde sie sich selbst und ihren
Freunden gegenüber parteiisch machen. Auf der anderen Seite ließen sie
ihre Bosheit, Leidenschaft und Rachsucht in der Bestrafung anderer das
rechte Maß überschreiten, so dass nichts als Verwirrung und Unordnung
die Folge sein werde - und Gott habe sicherlich Regierungen eingesetzt, um
der Menschen Parteilichkeit und Gewalttätigkeit in Schranken zu halten.
Ich will gern zugeben, dass eine bürgerliche Regierung das geeignete
Heilmittel ist gegen die Unbilden des Naturzustandes - die gewiss groß
sein müssen, wo Menschen in eigener Sache Richter sind. [...] Ich möchte aber die
bitten, die diesen Einwand machen, sich zu erinnern, dass auch absolute
Monarchen nur Menschen sind. Wenn Regierung das Heilmittel für jene Übel
sein soll, die sich als unmittelbare Folge ergeben, wenn Menschen in
eigener Sache Richter sind - was den Naturzustand so unerträglich macht
-, so möchte ich gerne wissen, wie jene Regierung aussieht und inwieweit
sie besser ist als der Naturzustand, in welcher ein einziger, der über
eine große Anzahl von Menschen gebietet, die Freiheit hat, sein eigener
Richter zu sein und mit allen seinen Untertanen zu tun, was ihm gefällt,
ohne dass irgendjemand die geringste Freiheit hätte, von denjenigen
Rechenschaft zu fordern oder über sie Kontrolle zu üben, die ausführen,
was ihm beliebt! Wenn man sich fügen muss, was immer er tun mag, ganz
gleich, ob ihn Vernunft, ein Irrtum oder seine Leidenschaft leitet! Bei
weitem besser haben es die Menschen im Naturzustand, wo sie nicht
gezwungen sind, sich eines anderen ungerechtem Willen zu unterwerfen: wer
in eigener oder fremder Sache fehlurteilt, ist der ganzen Menschheit
dafür verantwortlich.
14. Es wird oft als gewichtiger Einwand die Frage erhoben: Wo sind oder wo
haben sich jemals Menschen in einem solchen Naturzustande befunden? Als
vorläufige Antwort darauf mag es genug sein, hier anzuführen, dass ganz
offensichtlich, da sich doch alle Fürsten und Herrscher unabhängiger
Regierungen in der ganzen Welt im Naturzustande befinden, die Welt niemals
ohne eine Anzahl von Menschen in jenem Zustande war noch sein wird. Ich
habe gesagt, alle Regierenden unabhängiger Gemeinschaften - ob sie mit
anderen verbündet sind oder nicht. Nicht jeder Vertrag nämlich setzt dem
Naturzustand unter den Menschen ein Ende, sondern nur jener, in welchem
sie gegenseitig übereinkommen, in eine Gemeinschaft einzutreten und einen
politischen Körper zu bilden. Man mag sich andere Versprechen geben
untereinander und andere Verträge eingehen und dennoch im Naturzustand
verbleiben. [...]
15. [...] Ich will vielmehr darüber hinaus behaupten, dass sich alle Menschen von
Natur her in jenem Zustand befinden und dass sie darin verbleiben, bis sie
sich selbst kraft ihrer eigenen Zustimmung zu Gliedern einer politischen
Gesellschaft machen.
(aus: John Locke, Über die Regierung (The Second
Treatise of Government, 1689), Stuttgart: Philipp Reclam 1981, übersetzt
von Dorothee Tidow, S.4 - 14 )
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Arbeitsanregungen:
-
Untersuchen Sie, wodurch nach
John
Locke der Naturzustand des Menschen gekennzeichnet ist.
-
Zeigen Sie dabei auf, welche Gesetze den Naturzustand regieren.
-
Erläutern Sie dabei, welcher Art ein Vertrag sein muss, der diesem
Naturzustand ein Ende setzen kann.
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