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132. Wie schon gezeigt worden ist, liegt bei der ersten Vereinigung der
Menschen zu einer Gesellschaft naturgemäß die gesamte Gewalt der
Gemeinschaft in der Mehrheit. Sie kann diese ganze Gewalt anwenden, um der
Gemeinschaft die von Zeit zu Zeit erforderlichen Gesetze zu geben und
diese Gesetze durch Beamte vollstrecken lassen, die von ihr selbst ernannt
werden. In diesem Fall ist die Regierungsform eine vollkommene Demokratie.
Sie kann aber auch die Gewalt, Gesetze zu geben, in die Hände einiger
ausgewählter Männer und deren Erben oder Nachfolger legen und dann ist
sie eine Oligarchie oder aber in die Hände eines einzigen Mannes und dann
handelt es sich um eine Monarchie. Wird sie ihm zusammen mit seinen Erben
übertragen, so ist es eine Erbmonarchie, wenn aber nur auf Lebenszeit (so
dass bei seinem Tode die Macht, einen Nachfolger zu ernennen, wieder an
die Mehrheit zurückfällt), eine Wahlmonarchie. Und dementsprechend kann
die Gemeinschaft nach Belieben zusammengesetzte und gemischte
Regierungsformen bilden. Wenn die Mehrheit die legislative Gewalt zuerst
nur auf Lebenszeit oder für eine begrenzte Zeit einer einzigen oder
mehreren Personen überträgt und danach die höchste Gewalt wieder an sie
zurückfällt, so kann die Gemeinschaft danach wieder über sie verfügen
und sie in beliebige Hände legen und so eine neue Regierungsform
schaffen. Denn die Form der Regierung richtet sich nach der Zuteilung der
höchsten Gewalt, nämlich der Legislative. Da man unmöglich annehmen
kann, dass eine untergeordnete Gewalt einer höheren Vorschriften setzt
oder irgendeine andere als die höchste Gewalt Gesetze zu geben vermag,
richtet sich nach der Zuordnung der gesetzgebenden Gewalt auch die Form
des Staatswesens.
133. Unter einem Staat (commonwealth) will ich allenthalben nicht eine
Demokratie oder sonst eine Form der Regierung verstanden wissen, sondern
jedwede unabhängige Gemeinschaft - was die Römer als civitas
bezeichneten.
(aus: John Locke, Über die Regierung (The Second
Treatise of Government, 1689), Stuttgart: Philipp Reclam 1981, übersetzt
von Dorothee Tidow, S.99-100 )
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