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Der Kriegszustand

John Locke (1632-1704)


16. Der Kriegszustand ist ein Zustand der Feindschaft und Vernichtung. Wer daher durch Wort oder Tat einen nicht aus Erregung oder Übereilung veranlassten, sondern geplanten Anschlag auf eines anderen Leben kundgibt, versetzt sich dem gegenüber, gegen den er eine solche Absicht erklärt hat, in den Kriegszustand.[...] Man darf einen Menschen, der einem den Krieg erklärt oder sich als ein Feind der eigenen Existenz herausstellt, töten, aus demselben Grund, aus dem man einen Wolf oder einen Löwen tötet. Ein solcher Mensch nämlich ist nicht gebunden durch das gemeine Gesetz der Vernunft und kennt keine anderen Regeln als die der bloßen Stärke und Gewalt. [...]
17. Daraus folgt: Wer versucht, einen anderen Menschen in seine absolute Gewalt zu bringen, versetzt sich selbst gegenüber diesem Menschen in den Kriegszustand, denn sein Handeln muss als die Erklärung eines Anschlags auf sein Leben aufgefasst werden. [...] Denn niemand kann den Wunsch haben, mich in seine absolute Gewalt zu bringen, es sei denn, er wolle mich gewaltsam zu etwas zwingen, was gegen mein Recht auf Freiheit verstößt, d.h. mich zum Sklaven machen. Von solcher Gewalt frei zu sein, ist die einzige Sicherheit für meine Selbsterhaltung und die Vernunft gebietet mir, denjenigen als einen Feind meiner Selbsterhaltung anzusehen, der mir diese Freiheit, die doch ihr Schutz ist, nehmen will. [...] ebenso wie man annehmen muss, dass derjenige, der in einer Gesellschaft den Gliedern dieser Gesellschaft oder dieses Staates die ihnen gebührende Freiheit raubt, auch die Absicht haben wird, ihnen alles Übrige zu nehmen, und ihn deshalb als im Kriegszustande betrachten muss.
[...] Wenn er ohne jegliches Recht Gewalt anwendet, um mich in seine Macht zu bekommen, so mag seine Absicht sein, wie sie will, ich habe allen Grund anzunehmen, dass er mir, wenn er mir meine Freiheit nähme, auch alles Übrige nehmen würde, so er mich nur in seine Gewalt bekäme. Ich kann ihn deshalb mit Recht behandeln wie jemanden, der sich mir gegenüber in den Kriegszustand versetzt hat, d.h., ich kann ihn töten, wenn ich es vermag - eben dieser Gefahr nämlich setzt sich zu Recht aus, wer immer den Kriegszustand herbeiführt und als Angreifer dabei auftritt.
19. Hierin liegt der deutliche Unterschied zwischen dem Naturzustand und dem Kriegszustand. [...] Das Zusammenleben der Menschen nach ihrer Vernunft, ohne einen gemeinsamen Oberherrn auf Erden mit der Macht, ihnen Recht zu sprechen, bedeutet den reinen Naturzustand. Gewalt aber oder die erklärte Absicht, gegen die Person eines anderen Gewalt zu gebrauchen, bedeutet, wo es keinen gemeinsamen Oberherrn gibt auf Erden, den man um Hilfe anrufen könnte, den Kriegszustand. Und gerade das Fehlen einer solchen Berufungsmöglichkeit gibt dem Menschen das Recht, Krieg zu führen gegen einen Angreifer, mag er auch in der Gesellschaft leben und gleich ihm Untertan sein. [...] Das Fehlen eines mit Autorität ausgestatteten gemeinsamen Richters versetzt alle Menschen in den Naturzustand; Gewalt ohne Recht, gegen jemandes Person gerichtet, erzeugt den Kriegszustand, ganz gleich, ob es einen gemeinsamen Richter gibt oder nicht.
20. Sobald aber die unmittelbare Gewaltanwendung vorüber ist, hat der Kriegszustand unter denen, die in der Gesellschaft leben, ein Ende und beide Seiten sind gleichermaßen dem gerechten Entscheid der Gesetze unterworfen, denn es steht einem dann offen, zur Sühnung des erlittenen Unrechts und um zukünftigem Schaden vorzubeugen, als Heilmittel das Gesetz anzurufen. Wo jedoch dies, wie im Naturzustand, mangels positiver Gesetze und eines mit Autorität ausgestatteten Richters, an den man sich wenden könnte, nicht möglich ist, dauert der einmal begonnene Kriegszustand fort. [...] Ja, wo es einem offen steht, die Gesetze und die ernannten Richter anzurufen, dieses Heilmittel jedoch durch offenkundige Verkehrung der Gerechtigkeit und unverhüllte Rechtsverdrehung verweigert wird, um die Gewalttätigkeit und das Unrecht irgendwelcher Menschen oder einer Partei zu protegieren oder straflos zu halten, da ist es schwer, an etwas anderes zu denken als an den Kriegszustand. Wo immer nämlich Gewalt geübt wird und Unrecht geschieht - mag es auch das Werk jener sein, die man ernannt hatte, Gerechtigkeit zu üben -, es bleibt Gewalt und Unrecht, sosehr man es auch mit dem Namen, unter dem Vorwand oder der Form des Gesetzes beschönigt. Denn der Sinn der Gesetze ist es, durch unvoreingenommene Anwendung auf alle, die unter ihnen stehen, den Unschuldigen zu schützen und ihm zu seinem Recht zu verhelfen. Wo dies nicht bona fide geschieht, ist gegen die Leidtragenden der Krieg erklärt; wenn sie keine Instanz auf Erden haben, die sie anrufen könnten, dass sie ihnen zu ihrem Recht verhelfe, bleibt ihnen in solchen Fällen als einziger Ausweg, den Himmel anzurufen.
21. Diesem Zustand des Krieges zu entgehen (in dem man allein den Himmel anrufen kann und der leicht das Ergebnis jeder kleinsten Streitigkeit ist, wenn es keine Autorität gibt, die zwischen den streitenden Parteien entscheidet), ist ein Hauptgrund, dass sich die Menschen zu einer Gesellschaft vereinigen und den Naturzustand verlassen. Denn wo es eine Autorität gibt, eine Macht auf Erden, die einem Hilfe gewährt, wenn man sie anruft, kann der Kriegszustand nicht fortdauern, und der Streit wird von jener Gewalt entschieden.

(aus: John Locke, Über die Regierung (The Second Treatise of Government, 1689), Stuttgart: Philipp Reclam 1981, übersetzt von Dorothee Tidow, S.144 - 148 )
   


   Arbeitsanregungen:
  1. Arbeiten Sie heraus, wodurch nach John Locke der Kriegszustand gekennzeichnet ist.

  2. Zeigen Sie dabei auf, worin sich der Naturzustand vom Kriegszustand unterscheidet.

  3. In welchen Fällen sieht es Locke für legitim an, Gesetzen und ernannten Richtern den Gehorsam zu verweigern?
     

                 
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