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16. Der Kriegszustand ist ein Zustand der Feindschaft und Vernichtung. Wer
daher durch Wort oder Tat einen nicht aus Erregung oder Übereilung
veranlassten, sondern geplanten Anschlag auf eines anderen Leben kundgibt,
versetzt sich dem gegenüber, gegen den er eine solche Absicht erklärt
hat, in den Kriegszustand.[...] Man darf einen Menschen, der einem den Krieg erklärt oder
sich als ein Feind der eigenen Existenz herausstellt, töten, aus
demselben Grund, aus dem man einen Wolf oder einen Löwen tötet. Ein
solcher Mensch nämlich ist nicht gebunden durch das gemeine Gesetz der
Vernunft und kennt keine anderen Regeln als die der bloßen Stärke und
Gewalt. [...]
17. Daraus folgt: Wer versucht, einen anderen Menschen in seine absolute
Gewalt zu bringen, versetzt sich selbst gegenüber diesem Menschen in den
Kriegszustand, denn sein Handeln muss als die Erklärung eines Anschlags
auf sein Leben aufgefasst werden. [...] Denn niemand kann den Wunsch haben, mich in
seine absolute Gewalt zu bringen, es sei denn, er wolle mich gewaltsam zu
etwas zwingen, was gegen mein Recht auf Freiheit verstößt, d.h. mich zum
Sklaven machen. Von solcher Gewalt frei zu sein, ist die einzige
Sicherheit für meine Selbsterhaltung und die Vernunft gebietet mir,
denjenigen als einen Feind meiner Selbsterhaltung anzusehen, der mir diese
Freiheit, die doch ihr Schutz ist, nehmen will. [...] ebenso wie man annehmen muss,
dass derjenige, der in einer Gesellschaft den Gliedern dieser Gesellschaft
oder dieses Staates die ihnen gebührende Freiheit raubt, auch die Absicht
haben wird, ihnen alles Übrige zu nehmen, und ihn deshalb als im
Kriegszustande betrachten muss.
[...] Wenn er ohne jegliches Recht Gewalt anwendet, um mich in seine
Macht zu bekommen, so mag seine Absicht sein, wie sie will, ich habe allen
Grund anzunehmen, dass er mir, wenn er mir meine Freiheit nähme, auch
alles Übrige nehmen würde, so er mich nur in seine Gewalt bekäme. Ich
kann ihn deshalb mit Recht behandeln wie jemanden, der sich mir gegenüber
in den Kriegszustand versetzt hat, d.h., ich kann ihn töten, wenn ich es
vermag - eben dieser Gefahr nämlich setzt sich zu Recht aus, wer immer
den Kriegszustand herbeiführt und als Angreifer dabei auftritt.
19. Hierin liegt der deutliche Unterschied zwischen dem Naturzustand und
dem Kriegszustand. [...] Das
Zusammenleben der Menschen nach ihrer Vernunft, ohne einen gemeinsamen
Oberherrn auf Erden mit der Macht, ihnen Recht zu sprechen, bedeutet den
reinen Naturzustand. Gewalt aber oder die erklärte Absicht, gegen die
Person eines anderen Gewalt zu gebrauchen, bedeutet, wo es keinen
gemeinsamen Oberherrn gibt auf Erden, den man um Hilfe anrufen könnte,
den Kriegszustand. Und gerade das Fehlen einer solchen
Berufungsmöglichkeit gibt dem Menschen das Recht, Krieg zu führen gegen
einen Angreifer, mag er auch in der Gesellschaft leben und gleich ihm
Untertan sein. [...]
Das Fehlen eines mit Autorität ausgestatteten gemeinsamen
Richters versetzt alle Menschen in den Naturzustand; Gewalt ohne Recht,
gegen jemandes Person gerichtet, erzeugt den Kriegszustand, ganz gleich,
ob es einen gemeinsamen Richter gibt oder nicht.
20. Sobald aber die unmittelbare Gewaltanwendung vorüber ist, hat der
Kriegszustand unter denen, die in der Gesellschaft leben, ein Ende und
beide Seiten sind gleichermaßen dem gerechten Entscheid der Gesetze
unterworfen, denn es steht einem dann offen, zur Sühnung des erlittenen
Unrechts und um zukünftigem Schaden vorzubeugen, als Heilmittel das
Gesetz anzurufen. Wo jedoch dies, wie im Naturzustand, mangels positiver
Gesetze und eines mit Autorität ausgestatteten Richters, an den man sich
wenden könnte, nicht möglich ist, dauert der einmal begonnene
Kriegszustand fort. [...] Ja, wo es einem offen
steht, die Gesetze und die ernannten Richter anzurufen, dieses Heilmittel
jedoch durch offenkundige Verkehrung der Gerechtigkeit und unverhüllte
Rechtsverdrehung verweigert wird, um die Gewalttätigkeit und das Unrecht
irgendwelcher Menschen oder einer Partei zu protegieren oder straflos zu
halten, da ist es schwer, an etwas anderes zu denken als an den
Kriegszustand. Wo immer nämlich Gewalt geübt wird und Unrecht geschieht
- mag es auch das Werk jener sein, die man ernannt hatte, Gerechtigkeit zu
üben -, es bleibt Gewalt und Unrecht, sosehr man es auch mit dem Namen,
unter dem Vorwand oder der Form des Gesetzes beschönigt. Denn der Sinn
der Gesetze ist es, durch unvoreingenommene Anwendung auf alle, die unter
ihnen stehen, den Unschuldigen zu schützen und ihm zu seinem Recht zu
verhelfen. Wo dies nicht bona fide geschieht, ist gegen die Leidtragenden
der Krieg erklärt; wenn sie keine Instanz auf Erden haben, die sie
anrufen könnten, dass sie ihnen zu ihrem Recht verhelfe, bleibt ihnen in
solchen Fällen als einziger Ausweg, den Himmel anzurufen.
21. Diesem Zustand des Krieges zu entgehen (in dem man
allein den Himmel
anrufen kann und der leicht das Ergebnis jeder kleinsten Streitigkeit ist,
wenn es keine Autorität gibt, die zwischen den streitenden Parteien
entscheidet), ist ein
Hauptgrund, dass sich die Menschen zu einer
Gesellschaft vereinigen und den Naturzustand verlassen. Denn wo es eine
Autorität gibt, eine Macht auf Erden, die einem Hilfe gewährt, wenn man
sie anruft, kann der Kriegszustand nicht fortdauern, und der Streit wird
von jener Gewalt entschieden.
(aus: John Locke, Über die Regierung (The Second
Treatise of Government, 1689), Stuttgart: Philipp Reclam 1981, übersetzt
von Dorothee Tidow, S.144 - 148 )
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