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Mainzer Republik 1792/1793
"Mit der Revolutionsepoche setzte eine phantasievolle
Literaturproduktion ein, die nicht die Handschrift eines bürgerlichen
Individualismus trug. Mit dem Niedergang demokratischer Bewegungen
verschwand dieser neue Typ von Literatur. [...]
Autoren wie Erscheinungsorte, Sprache wie Inhalt und Überlieferungsweise
garantierten dieser Literatur Desinteresse, wenn nicht gar Verachtung. Die
Autoren waren niedergehaltene Menschen, nicht immer mit einer vorzüglichen
Bildung, kaum jemals Leute von Rang und Namen [...].
Die Erscheinungsorte dieser Literatur waren nicht Verlage oder
Buchhandlungen, sondern Türen, Bäume, Laternenpfähle, Wirtshaustische,
Aborte, Stadttore, Fensterbänke, Kanzeln, Landsgemeinden, Straßen,
Sammelplätze, Märkte, Kutschen, Brunnen, Haustürschwellen usw. Rebellische
Volksliteratur konnte um einen Stein gewickelt erscheinen und so einem
Mächtigen ins Fenster geworfen werden, oder sie wurde zwischen Buchdeckeln
geschmuggelt oder in Kleider eingenäht oder in Einkaufskörben versteckt oder
dicken Warenballen anvertraut.
Sicher meldet sich bei manchem schon der Einwand, solche Zettel aus
dem Untergrund hätten doch nichts mit Literatur zu tun. [...]
Aufständische singen auf der Straße ein neues Lied gegen ihre
Plagegeister. Wird das erst dann zur Literatur, wenn ein Schreiber alles
säuberlich aufzeichnet?
In einer Bauernwirtschaft gibt ein phantasiebegabter Mitkämpfer
während einer Fronverweigerung einen Schwank auf Kosten des Herrschers zum
besten, bis die Runde im Gelächter schier erstickt. Wird das erst dann
Literatur, wenn ein gelehrter Herr aus der Stadt - frühestens nach dem Ende
des Aufstandes, vielleicht erst nach hundert Jahren oder mehr - angereist
kommt und aus kuriosem Interesse an einer niedergehenden Volkskultur auch
dieses verquere Stück niederschreibt, bei dem er sich abgrundtief
unbehaglich fühlt? [...]
Die Formen der unbotmäßigen Volksliteratur zeigen eine erstaunliche
Vielfalt. [...]
Scharf voneinander scheiden lässt sich diese Art von Volksliteratur
nicht. Ein Aufruhrzettel, der von Dorf zu Dorf weitergegeben wird und zum
Zug gegen ein Schloss auffordert, kann unterwegs zum Anschlagzettel am
Rathaus oder, abgewandelt und erweitert, zum schon allgemeiner werdenden
Flugzettel für einen größeren Landstrich werden."
(aus:
Haasis, 1988, Bd. 1, S.181 ff., gekürzt)