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Die nachfolgende Textinterpretation
kann, da der Originaltext ohne Zeilennummern präsentiert werden
muss, bei Zitaten und anderen Textbelegen nicht auf die
entsprechenden Zeilennummern verweisen. Daher werden entsprechende Angaben
immer als ... gekennzeichnet.
In der Kurzgeschichte "Ich
bin ein Kumpel" von
Angela Stachowa,
erschienen in Leipzig 1976, geht es um die Problematik der
Geschlechtsrollen von Männern und Frauen. Erzählt wird, wie die Ich-Erzählerin
aus Liebe zu einem Mann unter Preisgabe ihrer weiblichen Identität
Aufnahme in einer reinen Männergruppe findet und wie sie damit fertig
wird.
Die erzählte Zeit der Geschichte umfasst einen Zeitraum von zehn Jahren,
in dem die Ich-Erzählerin, aus deren Perspektive erzählt wird, alle
möglichen männlichen Verhaltensweisen annimmt. In der Erzählergegenwart
am Ende dieses langen Prozesses kann sie von sich behaupten, ein Kumpel
geworden zu sein, auch wenn sie weiß, dass sie noch immer keine Witze
erzählen kann. (vgl. Z ...)
Das Motiv, ein Kumpel werden zu wollen, ist bei der Ich-Erzählerin, über
deren sonstige berufliche und soziale Situation keine weiteren Angaben
gemacht werden, vor zehn Jahren entstanden. Damals hat sie sich in einen
Mann verliebt hat, der sich nach Feierabend mit seinen Kumpels zu Bier und
Schnaps in einer Kneipe zu treffen pflegt. (vgl. Z ...) "In seiner
Nähe" will sie damals "immer" sein (Z. ...) und aus diesem
Grund versucht sie auch an dessen Feierabendrunde teilzunehmen. Dass dies
nicht reibungslos gelingen kann, bestätigt sie mit dem Hinweis, dass der
Prozess, bis sich die Männer an sie gewöhnten eineinhalb Jahre dauert
(Z...). Ehe sie allerdings "Kumpel" dieser Männer werden kann,
geht wieder ein langer Zeitraum dahin. Kumpel zu werden, heißt dabei, bei
den anderen, den Männern der Runde, vergessen zu machen, dass die
Ich-Erzählerin eine Frau ist. So weiß die Ich-Erzählerin, die dreimal
im Text fast penetrant betont: "Ich bin ein Kumpel" (Z ...,...,
...) genau, was von einem männlichen Kumpel verlangt ist. Ein Kumpel
trinkt ein ordentliches Maß an Bier und Schnaps, lacht "schallend,
brüllend und wiehernd" (Z ...), begutachtet Frauen stets nach ihrem
Äußeren und bemüht sich Frauen "abzuschleppen" (vgl. Z ...).
Auf der anderen Seite verlangt die Übernahme des männlichen Rollenbildes
eines Kumpels, den Verzicht auf alle äußeren Anzeichen von Weiblichkeit.
Auch wenn die Ich-Erzählerin Weibliches besonders in Spontanreaktionen
wie beim "Kichern" nicht gänzlich unterdrücken kann, setzt sie
sonst alles daran, auf sichtbare weibliche Merkmale zu verzichten. So
benutzt sie wie selbstverständlich keinerlei Make-up, tuscht sich nicht
die Wimpern und färbt sich ihre Haare nicht. (vgl. Z ...) Weiter noch:
wie ein Sinnbild für ihre verdrängte Weiblichkeit schnürt sie sich
ihren Busen mit flachen Büstenhaltern so ein, dass nichts mehr zu sehen
ist (vgl. Z ...).
So scheint aus Sicht der Ich-Erzählerin das Ganze "Gottseidank"
(Z ...) ganz in Ordnung zu sein, auch wenn ihr in manchen
"unbeherrschten" Situationen, die Angst im Gesicht steht, ihre
angenommene Kumpel-Identität zu verlieren und, man möchte fast sagen,
"nur" als Frau entlarvt zu werden. (vgl. Z ...). Aus ihrer
Erzählergegenwart betrachtet, erscheinen ihr die regelmäßigen
Handlungen und Verhaltensweisen eines Kumpels, die im historischen
Präsens erzählt werden, gar Ausdruck einer emanzipierten Haltung zu sein
(vgl. Z ...). Dies erklärt auch die Frage, weshalb die Frau nach dem
Scheitern ihrer ursprünglichen Hoffnungen gegenüber dem von ihr
verehrten Mann, dennoch in der Runde bleibt. Vielleicht klingt auch ein
wenig verletzter Stolz mit, wenn die Ich-Erzählerin mit dem Partikel
"übrigens" so ganz nebenbei berichtet, dass dieser Mann schon
vor acht Jahren eine andere geheiratet habe. (vgl. Z ...) Und selbst
dessen Hoffnungen, so berichtet die Ich-Erzählerin im Präteritum, sind
offensichtlich bald geplatzt, so dass er nach vorübergehender Abwesenheit
"endgültig" in die Runde "heimgekehrt" ist. (vgl. Z
...) Trotz der nüchtern, in knappen Parataxen dargestellten Situation
seitdem, spürt man in den wieder im historischen Präsens erzählten
Umgang der Ich-Erzählerin mit ihm heraus, dass sie den Verlust nicht ganz
verwunden hat. Nur in der Rolle des Kumpels nämlich gelingt es ihr,
"ganz kumpelhaft" mit ihm umzugehen und sich nach seinen Kindern
zu erkundigen. So klingt auch ihre Bemerkung "Wir sind alle nur
Menschen." (Z ...) wie eine etwas hilflose Rechtfertigung seines
Verhaltens aus der Perspektive eines Zeitpunktes acht Jahre nach der
Enttäuschung.
So fügt sich auch das Erlebnis, das die Ich-Erzählerin eine Woche zuvor
hat, in das Bild einer nicht widerspruchsfreien Übernahme männlicher
Rollenidentität. Im Spiegel sieht sie "ein seltsam fremdes
Gesicht" (Z ...). Ohne ein weiteres Wort darüber zu verlieren,
"bügelt" sie diese Erfahrung wieder zurecht, indem sie betont,
dass es trotz der Fremdartigkeit doch ihr eigenes Gesicht gewesen sein
müsse, das sie betrachtet habe. Im Präteritum erzählt, das an dieser
wie auch an anderen Stellen, die Einmaligkeit des Geschehens in der
Vergangenheit der Ich-Erzählerin betont, hat man das Gefühl als sei die
Spiegelsituation die erste Begegnung mit ihrem wahren Ich seit vielen
Jahren. Und wie um sich vor den Auswirkungen dieser Eindrücke zu
bewahren, die zu einer Erschütterung ihrer angenommenen Rollenidentität
führen könnten, betont sie danach zum dritten Mal: "Ich bin ein
Kumpel." Allerdings hat, ob sie es nun wahrnehmen will oder nicht,
der Boden unter ihr zu wanken begonnen. Denn ohne einen konkreten Grund
dafür zu nennen, steigert sich die Ich-Erzählerin - im futurischen
Präsens erzählt - am Ende in eine Gewaltphantasie gegenüber ihren
Kumpels hinein. In bitterer Selbstironie will sie ihren Kumpels
"kumpelhaft" den Schädel einschlagen (vgl. Z ...).
Diese Gewaltphantasie resultiert aus den tiefen Demütigungen weiblicher
Identität, die sie in den vergangenen zehn Jahren erleben musste. Dass
sie den Ausbruch aus der männlichen Kumpelidentität mit den Mitteln eher
männlicher oder eben "kumpelhafter" Aggressivität träumt,
zeigt aber auch wie weit sie eben doch schon "Kumpel" geworden
ist.
Angela Stachowa hat mit ihrer Kurzgeschichte, die eine über zehn Jahre
währende alltägliche Begebenheit erzählt und in einem offenen Schluss
mündet, ein wichtiges Problem der Rollenidentität von Frauen gestaltet.
So wie bei der Ich-Erzählerin kann Emanzipation nicht um den Preis
weiblicher Identität errungen werden.