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Schillers
Abhandlung über die Erziehung durch Kunst "ist eine
leidenschaftlich bewegte Analyse der misslichen kulturellen Situation des
modernen Menschen: des Übels der Spezialisierung, sei es im Wissen oder in
technischen Fertigkeiten, oder der Überentwicklung einer Einzelfunktion
der Seelenkräfte auf Kosten der übrigen; der Spaltung dessen, was einst
vereint war - Empfindsamkeit und Denken, Gefühl und Moral, Körper und
Geist; [...] der Reduktion des Menschen zu einem bloßen Rädchen in einer
überentwickelten Gesellschaft; [...]
Die Briefe werfen erneut die Frage auf, die schon in der
»'Nikomachischen
Ethik' gestellt wird: Wie verhalten sich Einsicht und Handeln zueinander?
Werde ich durch das Verstehen der Tugend notwendigerweise auch schon
tugendhaft? [...] Wie verhalten sich Kunst und Politik zueinander? [...]
Denn was könnte tauglicher sein als Vermittler zwischen der Welt innen und
der Welt außen, zwischen den Wahrnehmungen der Sinne und den Einsichten
der Vernunft, oder zwischen den Einsichten der Vernunft und dem auf Tat
gerichteten Willen, als jene Gebilde, die wir Kunst nennen? Sie allein
bieten Abstraktionen - die jedoch sinnlich erfassbare Form sind; sie
allein zergliedern unsere gängigen Wahrnehmungen der Wirklichkeit - jedoch
nur um die dadurch gewonnenen Bruchstücke in neue Synthesen
zusammenzufügen; [...] sie allein bilden Schemata heraus, in denen das
Chaos wohl als Unheilbares dargestellt werden kann, in denen es jedoch
gezügelt und gezähmt wird; [...]
Was Schillers Behandlung dieser Fragen noch wesentlich wichtiger macht als
diejenige der Alten, ist der von ihm gewählte Zeitpunkt, sie neuerdings
aufzuwerfen. Es war ein Zeitpunkt, an dem die Verzweiflung über zunehmende
Zersplitterung und Entfremdung, die Forderung nach voll ausgebildeten,
noch 'ganzen' Menschen, zwar bereits akut geworden, jedoch noch nicht zu
den Klischees unserer Zeit erstarrt waren; [...] Es war ein Zeitpunkt, an
dem das demokratische Ideal [...] - das Recht jedes Menschen auf Freiheit,
Gleichheit und Brüderlichkeit sowohl in der geistigen als auch in der
politischen Sphäre -, nicht nur verkündet, sondern mit Gewalt durchgesetzt
wurde. Was Schiller fordert, ist die Wiederherstellung der für den
einzelnen Griechen bezeichnenden Ganzheit und Harmonie - jedoch ohne den
Verlust jener Vorteile, die der Menschheit durch Spezialisierung und
zunehmendes Wissen gebracht wurden. [...]
Weit entfernt davon, eine Flucht aus der politischen Wirklichkeit
darzustellen, sind die 'Ästhetischen Briefe' Schillers Versuch, sich in
der Art zu engagieren, für die er sich am zuständigsten fühlte. Die
treibende Kraft hinter der Abhandlung ist sein Glaube, dass jede
menschliche Reform, die von Dauer sein soll, nur von einer Änderung der
ganzen Denkweise ausgehen könne. Welche Art Denken müsste es jedoch sein,
um ins Handeln zu münden? Der Verlauf, den die französische Revolution
genommen hatte, war schließlich nur ein einziges, wenn auch ins Auge
springendes Beispiel für das Unvermögen, Theorie in Praxis zu übertragen;
[...] Wo die reinen Philosophen keinen Erfolg gehabt hatten, möchte sich
vielleicht ein Dichterphilosoph von Nutzen erweisen. Erziehung durch Kunst
erschien Schiller, so unwahrscheinlich das klingen mag, als der einzige
Weg, die gähnende Kluft zwischen Einsicht und Handeln zu schließen: eine
Kluft, die sowohl in der Politik des Staates als auch im sittlichen
Handeln des Privatmenschen bestand.
(aus:
Wilkinson/Willoughby 1977, S.15-17, S.23f., gekürzt)
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Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
16.12.2023