Lied nennen
wir auch im
geschlossenen Drama jene in sich gerundeten Gebilde, die sich
durch lyrischen Gehalt, durch ein gesondertes
Versmaß, durch Strophik,
manchmal auch durch
Reime aus der dramatischen Sprache des
jambischen
Gleichmaßes herausheben, selbst wenn es sich dabei nicht um Lieder im
streng gattungsmäßigen Sinne handelt. Lyrisch getönt ist die Dialog- und
Monologsprache des geschlossenen Dramas an vielen Stellen - etwa in
Mortimers Romerzählung [...] doch zu geschlossenen Liedern kommt es
nur selten.
Zu diesen selten Fällen zählen die vier Lieder in "Maria
Stuart",
III,1: "Lass
mich der neuen Freiheit genießen ...", "Eilende
Wolken! Segler der Lüfte!", "Dort
legt ein Fischer seinen Nachen an!" und "Hörst
du das Hifthorn?"
Es sind vier fast gleich lange hymneartige Gebilde, die sich durch
lyrischen Aufschwung, durch Versmaß und Reimsystem von dem jambischen
Dialog, in den sie eingebettet sind - jeweils eine Dialogpassage
Maria-Kennedy schiebt sich dazwischen - deutlich abzusondern. Doch nicht
nur äußerlich verkettet mit dem dramatischen Vorgang, auch inhaltlich.
Jedes Mal ist es ein Moment aus Marias Umgebung, an dem sich die
freiheitssehnenden Lieder entfachen; der grüne Teppich der weiten Wiesen,
die darüber hinwegeilenden Wolken, der Nachen des Fischers, das Hifthorn
des Jagdzuges - alles Dinge, in denen der Gefangenen eine frei und
ungebundene Bewegung verlockend sich offenbart. Doch diese Dinge im Lied
wie die Dinge im geschlossenen Drama überhaupt, existieren erst in zweiter
Linie als sie selbst, davor schiebt sich ihr exemplarischer Charakter, ihr
Sinnaspekt; hier: Freiheitssignale zu sein. Der architektonische Aufbau
der Szene, im alternierenden Wechsel von dramatischem Dialog und lyrischer
Weise [...] ist meisterhaft durchgeführt. [...] Der Zyklus der Lieder
durchspielt nahezu alle Sinne: in den beiden mittleren verdichten sich
optische Eindrücke [...], im ersten sind es taktile und geschmackliche
[...], im letzten sind es akustische [...]. Noch in einer andern Weise
ergänzen und bedingen sich die Lieder: in Marias Stimmungskurve, die sie
sie beschreiben. Der Gefangenschaft ist sie sich in jedem ihrer Lieder
bewusst, nur der Grad der Hoffnung ändert sich. Das erste Lied ist
Auftakt, ein erstes Kosten ihrer relativen Freiheit, [...] das Lied
ist optativisch getönt: sie hat den Wunsch, die freie Natur gleichsam in
sich einzusaugen. Das zweite Lied bestimmt der Realis [Ich bin gefangen,
ich bin in Banden), es ist ein Rückschlag auf die Euphorie des ersten. Im
dritten Lied, wieder höher gestimmt, herrscht der Konditionalis (Nähm' er
mich ein in den rettenden Kahn). Im letzten, im Hifthornlied, bricht
schließlich die anfängliche optativische Stimmung (Ach, auf das mutige
Ross mich zu schwingen) in den bitteren Realis um: die Möglichkeit, an der
Jagd teilzunehmen, gehört der Vergangenheit an, die Freiheit vermag sich
der Gefangenen nur in der Erinnerung verwirklichen.
Nicht nur in sich ist diese Liederszene architektonisch ausgewogen und
geschlossen, sie ist ebenso streng in den Verband des Gesamtdramas
eingepasst, kompositionell und dramaturgisch. Sie steht im dritten Akt,
kurz vor der Mittelachse, dem Höhepunkt des Dramas, in dem die beiden
Königinnen sich begegnen. Sie spiegelt in den Liedern den höchsten Gipfel
von Marias Hoffnung, die dann sogleich am Ende der nächsten Szene ihren
tiefsten Stand erreichen wird. Die Lieder sind also vom Ganzen her bis ins
einzelne motiviert und bestimmt. Noch in einer anderen Weise: der dritte
Akt ist der einzige, der im Freien spielt: Es scheint, als ob Marias
Lyrismus erst außerhalb der Mauern sich zu lösen vermöge: sobald die
engste Umgrenzung gefallen ist, befreit sich auch die Sprache aus dem
festen Maß des Jambus wie aus dem Pragmatischen und geht in ein lockeres,
fast springendes daktylisches Metrum über.
Die Lieder in "Maria Stuart" sind also streng dramatisch motiviert, sie
sind im Ganzen des Dramas wie der Szene genaustens verfugt und
determiniert. Das heißt nicht, sie seien, von den Personen her gesehen,
unspontan, doch sie erfüllen notwendig and der Stelle ihres Vorkommens
eine ästhetische Erwartung. Die Lieder können nicht kommen und gehen wie
sie wollen, an jedem beliebigen Punkt des Dramas, sondern es bedarf einer
Vorbereitung, einer Zurichtung der Situation, damit sie sich realisieren
können. Schließlich: es sind Lieder des gekürten Pathos; sie verlassen
zwar das Metrum der dramatischen Standardsprache, sie ändern auch den
gattungsmäßigen Aggregatzustand, von dramatisch zu lyrisch, doch bleiben
sie auf der Ebene des hohen Stils.
(Klotz
1976, 8. Aufl., S.194ff., gekürzt)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
16.12.2023