Der Ich-Erzähler berichtet in
•
Bernhard Schlinks Roman •»Der
Vorleser« davon, dass er während der wochenlangen Gerichtsverhandlung
nichts gefühlt habe und bezeichnet diesen Zustand als Betäubung
(vgl. »S.96ff.)
"Während
der wochenlangen Gerichtsverhandlung fühlte ich nichts, war mein Gefühl
wie betäubt. [...] Es war, wie wenn die Hand den Arm kneift, der von der
Spritze taub ist, Der Arm weiß nicht, daß er von der Hand gekniffen
wird, die Hand weiß, daß sie den Arm kneift, und das Gehirn hält beides
im ersten Moment nicht auseinander. Aber im zweiten unterscheidet es
wieder genau. Vielleicht hat die Hand so fest gekniffen, daß diese
Stelle eine Weile lang blaß ist. Dann kehrt das Blut zurück, und die
Stelle kriegt wieder Farbe. Aber das Gefühl kehrt darum noch nicht
zurück.
Wer hatte mir diese Spritze gegeben? Ich mir selbst, weil ich es ohne
Betäubung nicht ausgehalten hätte? Die Betäubung wirkte nicht nur
im Gerichtssaal und nicht nur so, daß ich Hanna erleben konnte, als sei
es ein anderer, der sie geliebt und begehrt hatte, jemand, den ich gut
kannte, der aber nicht ich war. Ich stand bei allen anderen neben mir
und sah mir zu, sah mich in der Universität, mit Eltern und
Geschwistern, mit den Freunden funktionieren, war aber nicht innerlich
beteiligt.
Nach einer Weile meinte ich ein ähnliches Betäubtsein auch bei anderen
beobachten zu können. Nicht bei den Anwälten, die während der ganzen
Verhandlung von derselben polternden, rechthaberischen Streitsucht,
pedantischen Schärfe oder auch lärmenden, kaltschnäuzigern
Unverschämtheit waren [...]. Die Staatsanwälte versuchten mitzuhalten
und ebenfalls Tag um Tag denselben kämpferischen Einsatz zu zeigen. Aber
es gelang ihnen nicht, zunächst nicht, weil die Gegenstände und die
Ereignisse der Verhandlung sie zu sehr entsetzten, dann, weil die
Betäubung zu wirken begann. Am stärksten wirkte sie bei den Richtern und
Schöffen. In den ersten Verhandlungstagen nahmen sie die
Schrecklichkeiten [...] mit sichtbarer Erschütterung oder auch mühsamer
Fassung zur Kenntnis. Später wurden die Gesichter wieder normal, konnten
einander lächelnd eine Bemerkung zuflüstern oder auch einen Hauch von
Ungeduld zeigen, wenn ein Zeuge vom Hölzchen aufs Stöckchen kam. [...]
Wie der KZ-Häftling, der Monat für Monat überlebt und sich gewöhnt hat
und das Entsetzen der neu Ankommenden gleichmütig registriert. Mit
derselben Betäubung registriert, mit der er das Morden und Sterben
selbst wahrnimmt. Alle Literatur der Überlebenden berichtet von dieser
Betäubung. [...] Die Angeklagten kamen mir vor, als seien sie noch
immer und für immer in dieser Betäubung befangen, in ihr gewissermaßen
versteinert.
Schon damals, als mich diese Gemeinsamkeit des Betäubtseins beschäftige
auch auch, daß die Betäubung sicht nicht nur auf Täter und Opfer gelegt
hatte, sondern auch auf uns legt, die wir als Richter und Schöffen,
Staatsanwälte oder Protokollanten später damit zu tun hatten, als ich
dabei Täter, Opfer, Tote, Lebendem Überlebende und Nachlebende
miteinander verglich, war mir nicht wohl, und wohl ist mir auch ´jetzt
nicht. Darf man derart vergleichen?"
In der anschließenden Reflexion des erzählenden (= sich
erinnernden Ichs) und in einigen späteren Textpassagen wird der Begriff
weiter verwendet. Der Begriff wird zur Bezeichnung eines psychischen
Zustands und bestimmter Verhaltensweisen unterschiedlicher Personen
herangezogen, wie das folgende
Strukturbild
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