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Paulo Moura 


Als die Polizei - alarmiert von ihrem PC-Abhörnetz - in der Altbauwohnung auf dem Hollywood-Boulevard ankam, war es zu spät. (1) ... ...
John Malone lebte seit zehn Jahren in New York, aber seit fünf Jahren hatte er seine Dachwohnung in der Spring Street mitten in Soho nicht mehr verlassen. Sein Essen und alles, was er sonst benötigte, bestellte er über America On Line (AOL), das öffentliche Computernetz, dessen Mitglied er war - wie 100 Millionen weiterer Amerikaner. Sein Bildschirmname war R. U. Sirius. Über sein Modem verschickte er jeden Tag Marktanalysen, die er für seine Firma mit Sitz in Memphis, Tennessee, erstellte.
Alle Kontakte, die er beruflich oder privat herstellen musste, spielten sich auf dem riesigen hochauflösenden Bildschirm ab, der an seinen IBM angeschlossen war. Der Computer hatte es ihm ermöglicht, einen über den ganzen Kontinent verteilten Freundeskreis aufzubauen. So hatte er es schon lange nicht mehr nötig, die Bars und Cafés im Cyberspace aufzusuchen.
Vor ungefähr einem Jahr hatte John Malone Candi kennen gelernt - bei einem Fest in einer der virtuellen Begegnungsstätten für Singles der AOL. Candi war 20 Jahre alt, hatte grüne Augen und blondes Haar, aber was John mehr anzog als alles andere, war die Sinnlichkeit und Ungezwungenheit, die alle Frauen in der "Stadt der Engel" eigen waren. Es war offenkundig, dass Candi Los Angeles kaum kannte, ebenso wenig wie John sich an New York erinnerte, doch das war unwichtig, denn im Cyberspace sind Städte keine Städte: Sie sind Ideen.
Candi erinnerte John an Frauen, die er in Kalifornien gesehen hatte, bevor er endgültig in die virtuelle Welt eingetreten war. An diese Zeit erinnerte er sich nur noch wie an einen Traum. Zuweilen kamen ihm flüchtige Bilder in den Sinn, verwandelt in platonische Reminiszensen* . Candi ist nichts weiter als ein wunderschönes Bild auf dem Computerbildschirm, erschaffen von Candi selbst. John schuf ebenfalls ein Bild seines Körpers, das bei Candi zu Hause auf dem Bildschirm erschien.
Sie redeten ganze Nächte lang, widmeten einander Lieder, die sie aus dem Verzeichnis der digitalen Aufnahmen des AOL-Servers auswählten und über ihre in den Computer integrierten Stereoanlangen hörten.
Doch sie redeten nicht nur. Manchmal zogen sie Cyberspace-Anzüge** mit elektrischen Stimulatoren an den erogenen Zonen an. Wenn der Partner auf der anderen Seite des Kontinents den Cursor auf dem Bildschirm zu einem dieser Punkte bewegte und ihn anklickte, spürte der andere eine Liebkosung.
John verliebte sich immer heftiger in Candi, doch im selben Maß wie seine Leidenschaft wuchs auch sein Misstrauen. In der virtuellen Welt, auf der Datenautobahn, so schien es John, war der Wert der Treue wichtiger denn je. Und da verschiedene Indizien seinen Verdacht nährten, dass seine Geliebte Beziehungen zu anderen AOL-Mitgliedern unterhielt, beschloss er, der Sache auf die Spur zu kommen.
Er schuf einen zweiten Bildschirmnamen, D. Juan 007, mit dem er versuchen wollte, Candi 2000 kennen zu lernen und sie zu verführen. (2) ...

(aus: Süddeutsche Zeitung, , Beilage Nr. 45 v. 23.2.95)

Worterklärungen: 

* verwandelt in platonische Reminiszensen: unmittelbare sexuelle Erfahrungen sinnlicher Art, die in eine rein geistige Liebe "verwandelt" sind
** Cyberspace-Anzug: Anzug, der von einem Computerprogramm gesteuert, elektrische Impulse an den menschlichen Körper abgibt, die u.a. sexuelle Erregung auslösen können
  


   Arbeitsanregungen:
  1. Füllen Sie die Lücken des Erzähltextes mit eigenen Ideen, und schreiben Sie die Geschichte zu Ende.

  2. Erfinden Sie einen Titel für die Geschichte.

  3. Nehmen Sie zu Inhalt und Aussage des Textes kritisch Stellung. Welche Bedeutung hat in diesem Zusammenhang Ihr Schluss der Geschichte? 

 →Operatorenkatalog des Landes Baden-Württemberg)

       
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