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Als die Polizei - alarmiert von ihrem PC-Abhörnetz - in der Altbauwohnung
auf dem Hollywood-Boulevard ankam, war es zu spät. (1) ... ...
John Malone lebte seit zehn Jahren in New York, aber seit fünf Jahren
hatte er seine Dachwohnung in der Spring Street mitten in Soho nicht mehr
verlassen. Sein Essen und alles, was er sonst benötigte, bestellte er
über America On Line (AOL), das öffentliche Computernetz, dessen
Mitglied er war - wie 100 Millionen weiterer Amerikaner. Sein
Bildschirmname war R. U. Sirius. Über sein Modem verschickte er jeden Tag
Marktanalysen, die er für seine Firma mit Sitz in Memphis, Tennessee,
erstellte.
Alle Kontakte, die er beruflich oder privat herstellen musste, spielten
sich auf dem riesigen hochauflösenden Bildschirm ab, der an seinen IBM
angeschlossen war. Der Computer hatte es ihm ermöglicht, einen über den
ganzen Kontinent verteilten Freundeskreis aufzubauen. So hatte er es schon
lange nicht mehr nötig, die Bars und Cafés im Cyberspace aufzusuchen.
Vor ungefähr einem Jahr hatte John Malone Candi kennen gelernt - bei
einem Fest in einer der virtuellen Begegnungsstätten für Singles der
AOL. Candi war 20 Jahre alt, hatte grüne Augen und blondes Haar, aber was
John mehr anzog als alles andere, war die Sinnlichkeit und
Ungezwungenheit, die alle Frauen in der "Stadt der Engel" eigen
waren. Es war offenkundig, dass Candi Los Angeles kaum kannte, ebenso
wenig wie John sich an New York erinnerte, doch das war unwichtig, denn im
Cyberspace sind Städte keine Städte: Sie sind Ideen.
Candi erinnerte John an Frauen, die er in Kalifornien gesehen hatte, bevor
er endgültig in die virtuelle Welt eingetreten war. An diese Zeit
erinnerte er sich nur noch wie an einen Traum. Zuweilen kamen ihm
flüchtige Bilder in den Sinn, verwandelt in platonische Reminiszensen*
. Candi ist nichts weiter als ein wunderschönes Bild auf dem
Computerbildschirm, erschaffen von Candi selbst. John schuf ebenfalls ein
Bild seines Körpers, das bei Candi zu Hause auf dem Bildschirm erschien.
Sie redeten ganze Nächte lang, widmeten einander Lieder, die sie aus dem
Verzeichnis der digitalen Aufnahmen des AOL-Servers auswählten und über
ihre in den Computer integrierten Stereoanlangen hörten.
Doch sie redeten nicht nur. Manchmal zogen sie Cyberspace-Anzüge**
mit elektrischen Stimulatoren an den erogenen Zonen an. Wenn der Partner
auf der anderen Seite des Kontinents den Cursor auf dem Bildschirm zu
einem dieser Punkte bewegte und ihn anklickte, spürte der andere eine
Liebkosung.
John verliebte sich immer heftiger in Candi, doch im selben Maß wie seine
Leidenschaft wuchs auch sein Misstrauen. In der virtuellen Welt, auf der
Datenautobahn, so schien es John, war der Wert der Treue wichtiger denn
je. Und da verschiedene Indizien seinen Verdacht nährten, dass seine
Geliebte Beziehungen zu anderen AOL-Mitgliedern unterhielt, beschloss er,
der Sache auf die Spur zu kommen.
Er schuf einen zweiten Bildschirmnamen, D. Juan 007, mit dem er versuchen
wollte, Candi 2000 kennen zu lernen und sie zu verführen. (2) ...
(aus:
Süddeutsche Zeitung, ,
Beilage Nr. 45 v. 23.2.95)
Worterklärungen:
* verwandelt in platonische Reminiszensen:
unmittelbare sexuelle Erfahrungen sinnlicher Art, die in eine rein
geistige Liebe "verwandelt" sind
** Cyberspace-Anzug: Anzug, der von einem Computerprogramm gesteuert,
elektrische Impulse an den menschlichen Körper abgibt, die u.a. sexuelle
Erregung auslösen können
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