Gotthold Ephraim Lessings "Nathan der Weise" gehört zum
Standardrepertoire deutscher Theaterbühnen. Nicht erst seit dem "Kampf der
Kulturen" (Samuel P. Huntington) um die Neugestaltung der
Weltpolitik im 21. Jahrhundert, aber doch auch von diesem beeinflusst,
suchen moderne Theaterregisseure die Auseinandersetzung mit dem Stück.
Nichtzuletzt deshalb gehört das Drama Lessings wohl zu den am häufigsten
rezensierten
Theaterstücken.
Dabei ist es immer wieder eine reizvolle Aufgabe, den
Tendenzen nachzugehen, welche die Inszenierungen des Stücks beeinflussen und beeinflusst haben und damit die
Inszenierungen zu "rekontextualisieren."
Im Rahmen einer
Portfolioarbeit o. ä. könnten aktuelle Aufführungen und
deren Rezensionen immer wieder aufs Neue einbezogen werden. Als
Beispiele für eine derartige Inszenierungsanalyse, die natürlich nur in
Ansätzen mit Hilfe von Rezensionen oder vielleicht kleinerern
Videoausschnitten oder Trailern die auf gängigen
Videosharing-Plattformen wie YouTube zu finden sind, erfolgen kann,
können die nachfolgenden Rezensionsauszüge zu Inszenierungen aus den
ersten Jahren nach der Jahrhundertwende dienen, die Ausgangspunkt einer
auf den Text und die Inszenierung bezogene kontextualisierte Analyse
sein könnten.
Text 1:
(Stuttgarter Nachrichten, 5.3.2001)
"Donald Berkenhoff inszeniert Lessings "Nathan" am Landestheater Tübingen:
Fast drei Stunden Hochspannung. An den Schalthebeln der wirtschaftlichen
Macht. Wie oft schon hat man diesen "Nathan" mit Unbehagen als dröges
Deklamations- oder Tendenzstück erlebt. Lessings dramatisches Gedicht mit
seiner Forderung nach einer "von Vorurteilen freien Liebe" zum krampfhaft
aktualisierten Pamphlet gegen Rassismus und Intoleranz verquält. Auch die
Tübinger Theatermacher legten den Stoff ins Heute. Allein mit dem Wie
sorgen Regisseur Donald Berkenhoff und sein glänzend agierendes Ensemble
für fast drei Stunden Hochspannung. Und das angesichts einer Aufführung,
die mit Bewegung und Bildern wahrlich geizt. Besonders vielschichtig aber
gelingt Stefan Vierings Nathan: Kein Sprachrohr aufklärerischer Ideale,
vielmehr eine brüchige und widersprüchliche Figur. Einer, in dem die
Ängste des Verfolgten und die Trauer über die beim Pogrom umgebrachte
Familie mit väterlicher Zärtlichkeit und der ironischen Herablassung des
reichen Geschäftsmanns im Widerstreit liegen. Verständlich, dass die
Tübinger Aufführung Lessings versöhnlichen Schluss "allseitiger
Umarmungen" verweigert: Toleranz ist ein Gut, das an den Weltmärkten nicht
abgesetzt werden kann."
Text 2:
Andrea Schneider: Straßenkampf mit Unterhaltungswert. Peter Lüders
beziehungsreiche Inszenierung von "Nathan der Weise" im Westfälischen
Landestheater (Westfälische
Rundschau, 11. Oktober 2004)
"Bomben detonieren. Panzerfäuste und Gewehre werden abgeschossen. Die
Einschläge rücken näher. Aus dem Schnürboden rieseln Sand und Kalk. Ein
junger Mann im Kampfanzug wirft sich Schutz suchend auf einen Haufen
Sandsäcke. Ein älterer im Business-Outfit zieht eine junge Frau behütend
in den Arm.
Eine Szene aus dem Nahen Osten, könnte man vermuten. Vielleicht aber auch
aus Bagdad, aus Kabul oder doch aus dem mittelalterlichen Jerusalem?
"Nathan der Weise" kommt in der neuen Inszenierung des Westfälischen
Landestheaters Castrop-Rauxel ohne zeitliche Vorgaben daher und gewinnt
gerade daraus seine aktuelle Kraft. Denn unter der Regie von Peter Lüder
verlieren populäre Wortkonstrukte wie "Achse des Bösen" oder
"internationaler Terror" ihre Masken. Die fanatischen Kontrahenten von
einst und jetzt bekommen Gesichter, zeigen sich als Geschäftsmann
(Nathan), als Warlord im Nadelstreifenanzug (Sultan) oder sehnender
Teenager (Recha). Eben als Menschen, die - jeder für sich - auf der Suche
nach persönlichem Glück und individueller Wahrheit sind.
Das Bühnenbild: Angedeutete Säulen, kahle Wände, eine Schwingtür, weinrote
Sessel. Ein bisschen Antike, ein bisschen Gegenwart. Die Geschichte um den
Juden Nathan, den Moslem Saladin und den christlichen Tempelherrn ist im
Irgendwo angesiedelt. Gestern? Heute? Einerlei. Nur die von Monitoren
flimmernden Bilder von Terroranschlägen und ausgebombten Straßenzügen
erzählen, dass uns der Konflikt von einst auch heute noch etwas angeht.
Lüder setzt auf Leichtigkeit, ohne läppisch zu wirken. Seine Kontrahenten
dürfen in Glücksmomenten swingen. Der Derwisch trägt zu Riemchensandalen
feinen Zwirn und dunkle Sonnenbrille, weil er sich in seiner neuen Rolle
als Finanzverwalter des Sultans besonders cool vorkommen darf. Der
Tempelherr in kriegerischer Montur pflegt seine Wunden. "Nathan der Weise"
kommt gleichsam frisch und fröhlich, anrührend und traurig daher. Die
Konflikte um Geld, Liebe und Religionen geraten zur zauberhaften
Bühnenunterhaltung. Doch die Leichtigkeit hinterlässt Spuren. "Es sind
nicht alle frei, die ihrer Ketten spotten", formuliert der Tempelherr. Was
will man dem noch hinzufügen?"
Text 3:
Pädagogisches Kammerspiel (Göttinger
Tageblatt 1.12.04)
"Der Aktualität zum Trotz verzichtet Intendant Thomas Bockelmann bei
seiner Inszenierung des “dramatischen Gedichts in fünf Aufzügen“ auf einen
ausdrücklichen Gegenwartsbe-ug. Der Kasseler “Nathan“, der am Freitag
erstmals in der documenta-Halle über die Bühne ging, unterstreicht erneut,
was sich als Theaterkonzeption des neuen Intendanten bereits in den ersten
Produktionen dieser Spielzeit abgezeichnet hat: Im Mittelpunkt stehen Text
und Schauspielkunst und weniger der inszenatorische Wille.[…]
Bockelmann will den in Dramenform gegossenen philosophischen Erörterungen
Lessings Raum geben, will die immer noch starken Worte des Aufklärers
wirken lassen auch wenn er den Text um rund ein Drittel gekürzt hat,
damit der Theaterabend nicht länger als drei Stunden dauern muss. “Nathan
der Weise“ mit der Ringparabel von der Gleichberechtigung der drei
monotheistischen Religionen ist ein pädagogisches Stück, auch in
Kassel.[…]
Das Ensemble nimmt die Herausforderung des erweiterten Kammerspiels an
und weiß sie ganz überwiegend zu meistern."
Text 4:
Jens Fischer, (taz,
25.10.05) Toleranz durch Kapitalismus: "Nathan der Weise" am
Schauspiel Hannover
"Der Glaube ermuntert [...] häufig die schlechten Instinkte der
Ausgrenzung, die sich in Mitleid, Verachtung, Feindschaft und Krieg
äußern. Der Widerspruch von edler Menschenbrüderschaft und der
historischen Realität gelebten Hasses hat Lessings humanes Werk mit
Bitterkeit imprägniert, so dass sich der Schweizer Regisseur Christoph
Frick nur misstrauisch nähert. Das Schauspielhaus Hannover darf nicht zur
Kanzel philosemitisch sich aufspielender Betroffenheitskultur werden.
Also wird klug verschlanktes, angenehm präzise geführtes
Schauspieler-Theater serviert. Frisch und unverbraucht klingt das
wortreiche Räsonieren, kunstvoll lebendig wirken die mathematisch
gezirkelten Auftritte. Sprachgestus, Kostüme, Haltungen sind heutig. Die
exotische Versöhnungsfabel aus dem mittelalterlich geträumten
Multikulti-Jerusalem, wo Liebesrausch und Vernunftreligion den
Glaubenskrieg befrieden, wird mit kühlem Charme in die Vorstandsetagen
globalisierter Unternehmen verlegt - auch wenn nur ein Sandgeviert auf der
ansonsten leeren Bühne zu sehen ist.
Die Inszenierung zeigt, dass nicht Idealismus und unmenschliche Güte,
sondern Geschäftssinn die religiösen Differenzen überwindet. In Lessings
Diskursethik entdeckt Frick eine vor allem kapitalistisch begründete
Toleranz. Nur so sind Geschäfte mit Vertretern anderen Glaubens zu
tätigen. Nur so ist zu verstehen, dass der Jude die moslemische
Kriegskasse bestücken will, um mit Zins und Zinseszins daran zu verdienen.
Hannes Hellmann spielt Nathan als einen Logozentriker, der das
Geschliffene seiner Weisheit unterläuft. So wie Lessing der
antisemitischen Fratze einen weisen Juden entgegenstellte, stellt Hellmann
dem allzeit klugen Hebräer den cleveren Unternehmer entgegen. Jetzt fällt
er kaum mehr auf in der "Nathan"-Gesellschaft, so dass Lessings Finale
Bühnenwirklichkeit werden könnte: "Unter stummer Wiederholung allseitiger
Umarmungen fällt der Vorhang." Bei Frick aber erstarrt das Ensemble,
einander entfremdet, verwirrt - während Nathan an seinen Außenseiterstatus
erinnert wird."
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
16.12.2023