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▪
Der Fragmentenstreit - Die Kontroverse Lessings
mit Goeze
Szene
I,2:
Nathan im Gespräch mit Recha und Daja zeigt beispielhaft, wie
Elemente der theologischen Auseinandersetzung, die Lessing mit dem
Hauptpastor »Johann
Melchior Goeze (1717-1787) vor der Abfassung seines Dramas geführt
hatte, "auf gewissen Inseln des Stücks zum dramatischen Stoff geworden
sind." (Demetz 1984,S.196)
Im
Gespräch ▪ Nathans
mit
▪
Recha
und
▪
Daja
(I,2) über die Rettung Rechas
durch den Tempelherrn führt Lessing vor, wie er sich die Verwandlung von
Offenbarungs- in Vernunftwahrheiten vorstellt.
Insbesondere die Art und Weise, wie er dabei und im ganzen ersten Akt den
christlichen Wunderglauben thematisierte, fand bei etlichen Kritikern,
darunter auch ▪ Friedrich Schiller, keineswegs Zuspruch. Denn statt es dabei
zu belassen, was er im sogenannten "Fragmentenstreit" vertreten habe, wo er
den Wunderglauben historisch betrachtet habe, werde von ihm im "Nathan" eine
"Ontologie des Mirakels dargeboten,
durch welche Rechas Vater das Wunder zuletzt als Flucht vor der Humanität in
tatenloser Schwärmerei entlarvt." (ebd.)
Und das in einem Umfang, mit zweifelhaftem Nutzen für das gesamte Stück, das den
ganzen ersten Akt überborde. (vgl.
ebd.)
Im Gespräch über den
"Wunderglauben" mit Recha kommt das Verhältnis Gott und Mensch zur
Sprache. (vgl.
Fick 2010,
S.505) Von seinem religionsphilosophischen
Hintergrund her betrachtet, lassen sich die hinter den von beiden
vertretenen Ansichten unterschiedliche Positionen ausmachen, die in der nachfolgenden
Strukturskizze
dargestellt werden.

Für größere Darstellung bitte anklicken!
In seinem
Gespräch mit Recha über ihre Rettung beim Brand während Nathans
Abwesenheit liefert Nathan eine Reihe von Gegenargumenten gegen die
Vorstellung Rechas und Dajas, Recha sei von einem Engel gerettet worden.
Indem
Nathan unaufdringlich, aber bestimmt, stets empathisch statt
bevormundend, Denkprozesse bei seiner zunächst beharrlich am
Wunderglauben festhaltenden Tochter in Gang bringt, zeigt er sich
gegenüber Recha als Erzieher.
Dabei setzt er darauf, dass sich am Ende
die vernunftgeleitete Einsicht durchsetzt, die sich auf natürliches
Empfinden ebenso wie Selbstreflexion stützt.
Was Nathan in dem Gespräch mit Recha, durchaus in Übereinstimmung mit
deistischen Vorstellungen vorbringt, darf indessen nicht als Bekenntnis
der Figur oder gar ihres Autors, Lessing, zu einem rein deistischen
Religionsverständnis verstanden werden, wie es beispielsweise der
angesehene Hamburger Orientalist und Gymnasiallehrer »Hermann
Samuel Reimarus (1694-1768), dessen Werke Lessing im so genannten
Fragmentenstreit veröffentlicht hat, vertreten hat.
Auch wenn ihm
dessen Angriffe auf die Wunderberichte der Bibel, insgesamt gesehen, aus
verschiedenen Gründen durchaus ins Konzept zu passen schienen, hat er
sich und damit den »Nathan« doch von Verschwörungstheorien, insbesondere
der "These
vom Jüngerbetrug", mehr oder weniger konsequent ferngehalten, weil
ihm wohl auch die Konsequenz dieser These, dass nämlich "alle Verheißungsaussagen des christlichen Glaubens auf
einer gigantischen Geschichtslüge basierten" (Kröger 1991,
S.17), gegen den Strich gingen.
Mehr noch: Im »Nathan« distanziert er sich
mit der ▪
Ringparabel (III,7) eindeutig
von solchen Verschwörungstheorien, "indem er die genaueren
Entstehungsgründe der Religionen als irrelevant abtut", weil das
eigentliche Wertkriterium für eine Religion für ihn das moralische
Verhalten ihrer Anhänger ist. (Nisbet
2008, S.708)
Auch für die Analyse von Nathans religiösen Überzeugungen dürfen seine
Aussagen im Zusammenhang seines erzieherischen Wirkens im Gespräch mit
Recha nicht isoliert betrachtet werden. Sie müssen insbesondere in den
Zusammenhang seiner Ausführungen und Intentionen in der Antwort auf die
Wahrheitsfrage des Sultans (Ringparabel
III,7), aber noch weitaus wichtiger in den Kontext der
Schlüsselszene
IV,7
(Nathan und der Klosterbruder im Gespräch
über die Ereignisse in Darun vor achtzehn
Jahren) des Dramas gestellt werden, in der
dem Leser/Zuschauer erstmals ein tiefer Einblick in das, was Nathans
Lebensführung zugrunde liegt, gewährt wird. (vgl.
Fick
2010, S.508)
Denn erst die in Nathans Bericht über seine Bewältigung
der traumatischen Ereignisse während des Judenpogroms in Gath, achtzehn
Jahre vor Beginn dem Einsetzung der Bühnenhandlung, in ihrer Tragweite
verdeutlichen die zentrale Wendung von Nathans »Ergebenheit in Gott«.
Sie steht auch für Lessings Position im Prozess seines Abrückens von der
Offenbarungsreligion hin zu einem Gottesbegriff, der aller
Vernunftorientierung zum Trotz auch intuitiver Erkenntnis des Göttlichen
einen Raum lässt. Diese kann sich in der "Haltung einer habituell gewordenen
Erfahrung, einem Berührtwerden" äußern (ebd.,
S.510), die ebenso wie die Vernunft Zugänge zur
"inneren Wahrheit" der Religion bieten kann.
Was in Lessings
theologischen Schriften und auch im »Nathan« durchscheint, ist daher
weder ein Bekenntnis zu einer der drei Offenbarungsreligionen, noch zu
geschlossenen deistischen Konzepten. Stattdessen ist aber zu erkennen, dass
"sein religiöses Bewusstsein", "dem Glauben wie auch der Vernunft
Spielraum bot und dass er den religiösen Glauben anderer achtete". (Nisbet 2008,
S.799).
Wahrheit jedenfalls, das ist für Lessing unverzichtbar, ist kein Dogma,
sondern ein Anspruch auf Wahrheit entsteht für ihn erst in der
Selbstreflexion. (vgl. (Lessing
als Theologe 2008, S.7) Viel mehr und vor allem Konkreteres lässt
sich über Lessings Religiosität wohl kaum sagen. (vgl. ebd. S.1)
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Der Fragmentenstreit - Die Kontroverse Lessings
mit Goeze
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
16.12.2023