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Textgrafik
In seinem
Gespräch mit
Recha
über ihre Rettung beim Brand in Nathans Haus
(Vorgeschichte) zeigt sich in besonderer Weise, auf welche Art und Weise ▪ Nathan als Erzieher anderer
Figuren im Drama wirkt. Die rhetorische Strategie, der er in diesem wie auch
anderen Gesprächen dieser Art folgt, zielt auf gegenseitige Verständigung. Statt
auf Konfrontation setzt er dabei "auf Argumentation und Überzeugung,
Nachdenklichkeit und Erläuterung" (Nisbet
2008, S.789)
Nathan, der
Recha, die als Christin geboren wurde, weder zur Jüdin noch zu einer
Christin erziehen kann, hat seine angenommene Tochter im Geiste des »Deismus,
der natürlichen Religion, erzogen. Auf diese Erziehungsarbeit kann er
natürlich auch zurückgreifen, wenn er im Gespräch mit Recha eine Reihe von Argumenten gegen
deren und
Dajas
Vorstellung vorbringt, Recha sei von einem Engel gerettet worden. Indem er
unaufdringlich, aber bestimmt, stets empathisch statt bevormundend
Denkprozesse bei seiner zunächst beharrlich am Wunderglauben festhaltenden
Tochter in Gang bringt, zeigt er sich gegenüber Recha als Erzieher. Dabei
setzt er darauf, dass sich am Ende die vernunftgeleitete Einsicht
durchsetzt, die sich auf natürliches Empfinden ebenso wie Selbstreflexion
stützt.
Dieses Gespräch dreht sich, wie auch andere Gespräche seiner Art im ersten Akt, thematisch um Zufälle,
von denen sich manche nicht so einfach
erklären lassen. Andere werden aus dem gleichen Grund auch bewusst verklärt oder
beruhen auf einer
verzerrten Realitätswahrnehmung. Alle haben sie allerdings den Effekt die
Erklärung des Zufalles irgendwie zu überhöhen. Damit erzeugen sie die Einbildung, es
handle sich um Wunder, mit denen Gott selbst, zum Wohl der Menschen, in
das Schicksal eingreift.
Nathan geht es in dem Gespräch mit seiner Tochter Recha indessen nicht
darum, sie von dem Glauben an von Gott bewirkte Wunder ganz und gar zu
befreien. Er will vielmehr erreichen, dass sie, "das Wirken Gottes im natürlichen Zusammenhang der Dinge
[...]
erkennen" kann. Demzufolge zielt seine Kritik an Wundern auch nicht darauf, Recha das Staunen über
Wunder grundsätzlich auszutreiben, sondern "fast im Gegenteil, möchte man sagen, lehrt er
das ›wahre‹
Staunen, nämlich die Fähigkeit, das Dasein selbst, die natürliche
Verflechtung der Ereignisse, als ein Wunder zu begreifen. An das »Wunder«
muss glauben, wer in den tausend Zufällen des Weltlaufs und in der
Naturkausalität die Vorsehen Gottes erkennt (bzw. erkennen will)".
(Fick 2010,
S.505)
Im Übrigen ist die Kritik Nathans am Wunderglauben von Recha und Daja
durchaus so gehalten, dass sie genauso gut
ein gläubiger Christ oder Muslim hätte vorbringen können. (vgl.
Nisbet
2008, S.797)
In
gewisser Hinsicht dokumentiert das Gespräch, das Recha und Daja später
führen, als sie gemeinsam auf den Tempelherrn warten (III,1),
welche Wirkung Nathans rhetorische Strategie auf Recha gehabt hat. So
sei es eben es auf Dajas Einfluss
zurückzuführen, dass sie die ganze "Engelsgeschichte"
überhaupt geglaubt
("und schon dein Engel", III,1) und sich damit vor ihrem Vater fast
"zur
Närrin" gemacht habe. Dabei betont sie auch, dass ihr dessen Lehre,
wonach "Ergebenheit/
In Gott von unserem Wähnen über Gott/ So ganz und gar nicht abhängt"
(ebd.) ihr stets mehr gegeben habe, als die christlichen Helden- und
Märtyrergeschichten, die ihr immer und immer wieder von Daja erzählt
worden seien.
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Die
Ergebnisse der Analyse der Szene I,2:
Nathan im Gespräch mit Recha und Daja, in der sich Nathan "in
einem Glanzstück aufgeklärter Erziehungsarbeit" (ebd.) als
"weiser" Erzieher erweist (→Nathan
als Erzieher), lässt sich mit folgender
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Textgrafik
(Schaubild, Strukturbild)
visualisiert
zusammenfassen:
Nathans Fähigkeit, als Erzieher anderer Figuren zu wirken, wird aber
gelegentlich auch metaphysisch begründet. So betont
Leisegang (1931/1984), der Lessing selbst einen "mystischen Gottes-
und Weltbegriff" (S.123) unterstellt, dass die Weisheit, die Nathans
Fähigkeit als Erzieher zugrunde liege, das Ergebnis seiner
Gottergebenheit
sei. Dementsprechend habe er auch seine Weisheit nicht "durch Denken
oder Grübeln, sondern durch die Führung der Vorsehung, durch Umkehr und
Einkehr, durch Verzicht auf eigenen Willen und Aufnahme des göttlichen
Willens erlangt" (ebd.,
S.125) (vgl. Nathans Verarbeitung
seiner Erlebnisse beim Judenpogrom in Gath ...).
Nur als Folge dieser Gottergebenheit habe Nathan zum "Erzieher der
anderen" werden können. Aus diesem Grunde sei die Übernahme dieser
Erzieherrolle auch kein willentlicher Akt oder Ergebnis einer
gesellschaftlichen Zuschreibung, vielmehr sei sie "eine Tätigkeit, die
er nicht ausüben will, sondern die von ihm ausgeht und ausstrahlt
als etwas Selbstverständliches, so dass nicht nur sein Tun, sondern sein
bloßes Dasein erzieherisch wirkt." So betrachtet ist Nathans Weisheit
aber auch kein Charakterzug Nathans, sondern die (logische) Konsequenz,
eines "von Gott hervorgebrachte(n) Wollen(s)" (ebd.,
S.118)
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Textgrafik
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
16.12.2023