Die Figur des
Saladin,
die
Lessing
in seinem
Drama »Nathan der Weise«
gestaltet hat, sollte dem historischen »Saladin
(1137/1138 -1193) nicht gerecht
werden. Und doch blieb Lessing "den geschichtlichen Zügen in großen Strichen
treu" und "(griff) nur dort bei der "Folge historischer Ereignisse
ein(...), wo die Korrektur einigen dramatischen Nutzen mit sich
brachte." (Demetz 1984,
S.189) So kann man fast den Eindruck gewinnen, "der Dramatiker Lessing
bleibe dem geschichtlichen Material treuer, als es der Theoretiker
wünschen möchte". (ebd.) Dass
Lessing bei der Dramatisierung seines Toleranzthemas auf den Moslem Saladin
zurückgegriffen hat, erscheint
Grotzfeld
(1978) nach Lage der Dinge " fast selbstverständlich", auch wenn
Saladin in Wahrheit "so orthodox, so im Islam verhaftet (war),
dass er gegen eine andere Religion als solche nicht - (in
Lessings Sinn) - tolerant sein und die Christen als eine dem
Muslim ebenbürtige Religionsgemeinschaft anerkennen konnte." (▪
Egle, Gert (2012): Saladin, der
edle Sarazene, und
der Kreuzfahrerstaat in Jerusalem)
Dass Lessing auf
Saladin zurückgreift, um im Rahmen seines Stückes den »Islam
zu verkörpern, dem er eine hohe Wertschätzung entgegenbrachte, lag
natürlich auch an dem Material, das ihm insbesondere
Francois Louis Claude Marin (1721 - 1809) mit seiner
zweibändigen Geschichte der Kreuzzüge lieferte. Das Charakterbild, das
Marin entwarf, passte in sein Konzept einer ernsten Komödie und die
wesentlichen Charakterzüge des Sultans entsprachen seinen Vorstellungen
von den dafür nötigen vermischten Charakteren, also Menschen, die auch
Schwächen aufweisen und gerade deshalb zur Identifikation einladen, die
er für das Bürgerliche Trauerspiel entwickelt hatte. (vgl. (Barner
u. a. 1987, S.321ff.)
Das Bild, das
Marin in seiner zweibändigen Geschichte der
Kreuzzüge von Saladin zeichnete, war für Lessing eine Fundgrube für
seinen Saladin im "Nathan". Die dem historischen Vorbild von Marin
zugeschriebene "Gerechtigkeitsliebe, fairness, persönliche
Bescheidenheit und Freigiebigkeit" (Demetz 1984,
S.187) passte besonders gut zu Lessings Konzept der ernsten Komödie. Die
"Blumenkette überraschender Wohltaten, humaner Rittersprüche, unerhörter
Beweis glanzvoller Ritterlichkeit"
(ebd.),
die Marin dem historischen Saladin umhängte, war jedenfalls
ausgesprochen lang: "Saladin, der Eroberer Jerusalems, Wachen
aufstellend, um die Plünderung der eroberten Stadt durch seine
siegestrunkenen Soldaten zu verhindern; Saladins Befreiung der Sklaven;
Saladins öffentliche Gerichtsverhandlungen, die selbst den Privatkläger
gegen den Staat tolerierten; Saladins Freude am kühnen und
schlagfertigen Gegner, dem er Leben und Freiheit schenkt; Saladins
Bemühungen, christlichen Müttern die geraubten Kinder wiederzufinden;
Saladins rasches Einschreiten gegen die Brutalität seiner Söhne, die
sich auf unrechte Art hervortun wollen; Saladins offene Hand, die
Unterführer und Emire mit Schätzen überhäufte, ohne selbst ein Gran
Goldes für sich zu behalten. Charakteristisch Marins Bericht, der
Saladins Barmherzigkeit mit der christlichen Grausamkeit konfrontiert".
(ebd.)
(vgl. auch die Darstellung Grotzfelds) Es fällt nicht schwer, für
nahezu alle diese Charaktereigenschaften Saladins eine entsprechende
Szene in Lessings Drama zu finden.
Das "Historische, Heroische und Unerhörte" (Demetz 1984,
S.186), das "den wildgerechten Herrscher" als Figur in einem Drama von
vornherein auszeichnen konnte, passte allerdings, solange diese Züge in
einem auf Herrschaft und Macht bezogenen Kontext erschienen, nicht in
Lessings Konzept der ersten Komödie, "Saladin, den berühmten Krieger und
Herrscher" in den Rahmen eines (rührenden) Familiendramas zu setzen,
bereitete auch spezifische theatralische Schwierigkeiten (vgl.
Demetz 1984,S.184).
Und so mancher Kritiker des Stückes, darunter auch
Friedrich
Schiller
(1759-1805), der das Stück für die Bühne bearbeitete, hat sich
darüber ausgelassen. (▪
Schiller,
Friedrich: Sultanisch, aber kein Sultan).
Den Sultan in den Rahmen eines Familienstücks zu setzen, lief Gefahr,
den charismatischen Heros, den sein Mythos umwehte, nur "in den
Pantoffeln des Privatmenschen" (Demetz 1984,S.186)
zu zeigen. Der Kunstgriff, den Lessing verwendet, die Passung, die Saladin für sein Stück, geeignet machte, war die
besondere Art, mit der er den Sultan stilisierte. ("Lessing stilisiert,
indem er privatisiert.",
ebd.)
Indem Lessing "auch die öffentlichen Tugenden Saladins, die er in Marins
Berichte [sic!] fand, sehr energisch ins Private verwandelt", verzerrt
sich indessen das historisch überlieferte Charakterbild nicht, ja es ist
geradezu "paradox, dass dieser von der Theater-Form postulierte
Privat-Saladin" im Wesentlichen dem
historischen Charakterbild entspricht.
Wenn sich, historisch betrachtet,
seine Entscheidungen über Krieg und Frieden, seine Gerechtigkeitsliebe,
Freigiebigkeit und vieles mehr in der öffentlichen Sphäre des Herrschers
vollzogen, so erscheint dies alles im "Nathan" in einer häuslichen Welt:
"Selbst Saladins Begnadigung des Tempelherren, eines seiner »schlimmsten
Feinde« [III,7] enthüllt sich zuletzt als Familienaffäre". (ebd.,
S.187)
Barner
u. a. (1987, S.321ff.) haben in folgender Weise untersucht, wie Lessing
die Figur Saladins konzipiert hat und wie die oben beschriebene
Passung funktioniert: "Gleich in seinem ersten Auftritt zeigt sich der Sultan wie
ein bürgerlicher Hausvater von Geldsorgen geplagt: »es klemmt sich
aller Orten« (II,1)
Heroismus erscheint an ihm nur noch als Zitat und als Gestus der Ohnmacht
gegenüber der Finanznot: »Ein Kleid, Ein Schwert, Ein Pferd, - und
Einen Gott! Was brauch ich mehr?«. Ganz im Gegensatz zu dieser Parole
des Heiligen Eroberungskrieges, den der Koran dem Gläubigen gebot, sehen
seine weltpolitischen (Heirats-)Pläne eine friedliche Überwindung des
blutigen Konflikts zwischen den Religionen vor (II,1).
[...]
Dass
Saladin
[...] einem Feind aufgrund einer plötzlich empfundenen Zuneigung das
Leben schenkt (s.
I,5
und
IV,4),
kann nach der Theorie des bürgerlichen Dramas als Indiz seiner
Menschlichkeit betrachtet werden und macht ihn zum Helden geeignet.
Maximen des politischen Rationalismus sind nicht von Saladin, sondern von
Sittah
zu hören."
Sie ist es auch, die "Realprinzipien der Macht" (Kröger
1991/98, S.42) wie "Kälte der Vernunft, selbstverständliche Handhabe
herrscherlicher Macht, Wissen um die Bedeutung des Geldes" (ebd.)
in Denken und Handeln des Herrschers einbringt.
Trotz allem: Auch die persönliche Integrität Saladins kann nicht
grundsätzlich darüber hinwegtäuschen, dass auch "sein Regiment vom Makel
absolutistischer Willkür gekennzeichnet" ist (Barner
u. a. (1987, S.321ff.)
Dies wird beim Schachspiel mit seiner Schwester
Sittah deutlich (II,1
u.
2),
bei der die Finanznot des Sultans zur Sprache kommt. Seine Macht, das zeigen
auch die zunächst ausbleibenden und später eintreffenden Tributzahlungen aus
Ägypten, beruht "auf der Ausplünderung seiner Untertanen" (Kröger
1991/98, S.42), auf die auch der gütigste Sultan im Interesse des
eigenen Machterhalts nicht verzichten kann.
So stellt denn auch Lessing den
Sultan beim Schachspiel nicht zufällig beim Spiel vor, denn "Zeremoniell und
Spiele hatten an den Höfen die Funktion, die Souveränität des Fürsten zu
repräsentieren und gottähnliche Omnipotenz zu prätendieren.1)"
(Barner
u. a. 1987, ebd.)
Und: Die "verschwenderische Mildtätigkeit Saladins" (ebd.)
entpuppt sich bei genauerem Hinsehen denn auch als ein "Verhalten Saladins, das insgesamt nichts bessern kann und nur
den Mythos von der Gottähnlichkeit des Fürsten festigen soll, in
sozialethischer Hinsicht unverantwortbar und zudem Ausdruck persönlicher
Schwäche. Insofern ist Nathan der Weise ein radikaler Bruch mit
der Apologetik
2)
der Höfe im klassizistischen Drama." (ebd.)
Und genau dies bringt ihn in einen Gegensatz zu Nathan, der seine Mittel
wohlüberlegt einsetzt, um das Ziel einer humanen Welt zu erreichen.
Daher
ziehen Barner
u. a. (1987, ebd.) den Schluss: "Wenn der Nathan Ausdruck
des gestiegenen bürgerlichen Selbstbewusstseins ist, hält er
auch am Gedanken fest, dass soziale Veränderungen sich am besten
über Bildung und Erziehung der Individuen und besonders eben der
Fürsten herbeiführen ließen. Diese Bildungsidee wurde durch das
Revolutionsziel erst ersetzt, nachdem in Frankreich die
bürgerliche Revolution gesiegt hatte."
WORTERKLÄRUNGEN
1
prätendieren:
beanspruchen, Anspruch erheben
2
Apologetik:
Verteidigung, Rechtfertigung
docx-Download -
pdf-Download
▪
Figurengestaltung in dramatischen Texten
▪
Kontrast-
und Korrespondenzbeziehungen der Figuren
▪
Figurencharakterisierung
▪
Techniken
der Figurencharakterisierung in dramatischen Texten
▪
Auktoriale Techniken
▪
Figurale
Techniken
▪
Saladin, der
edle Sarazene, und
der Kreuzfahrerstaat in Jerusalem (Gert
Egle, 2012)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
16.12.2023