Lessing
hat bei seiner Gestaltung der Figuren des
Patriarchen
und des
Sultans,
die mit ihrem Fanatismus des ersteren und der Toleranz des letzteren in
einem klaren
Kontrast zueinander stehen, auf die französischen Quellen von
Voltaire
und
Marin
zurückgegriffen. Dabei stammt das Bild des "überraschend menschlichen und
toleranten" und "leidenschaftslosen guten Herrschers" (Barner
u. a. 1987, S.321ff.) vor allem von
Marin,
der die
unzähligen
»Tugenden«
Saladins, darunter »seine
Gnade, seine Gerechtigkeit, seine Mäßigung, seine Freygebigkeit«
in höchsten Tönen gepriesen hat. Dabei war auch dieses Bild des "edlen
Sarazenen" in der europäischen Literatur längst bekannt. Denn schon
»Wolfram von Eschenbach (ca.1160/80 - ca. 1220) hat Saladin in der zwischen 1217
und 1200 entstandenen Reimerzählung
»Willehalm ein Denkmal für allgemeine Menschlichkeit gesetzt, die
über den Religionen liegt. Und auch der Florentiner Gelehrte
»Dante
Aligheri (1265-1321),
der wohl bekannteste Dichter des Mittelalters, reihte ihn unter die
rechtschaffenen heidnischen Seelen im
Limbus ein (lat.
für "Rand, Saum, Umgrenzung") , in der
katholischen Theologie so eine Art Vorhölle, wo die Seelen sind, die
eigentlich ohne eigenes Zutun und Verschulden vom Himmelreich
ausgeschlossen sind.
Allerdings war es nicht gerade einfach, einem Heiden wie Saladin das Ideal
wahrer Menschlichkeit und Tugend zuzuschreiben. Denn solche
Zuschreibungen waren nach mittelalterlichem Verständnis christlichen Rittern vorbehalten. Indem die mittelalterliche Welt sich Saladin zum
edlen Ritter anverwandelte, war der Weg frei, ihn zu einem
"Beinahe-christlichen Ritter"
Grotzfeld
(1978, S. 483f.) zu stilisieren. Und doch haftete der ihm
zugeschriebenen Humanität stets ein Makel an. Wenn man seiner
Haltung auch Anerkennung zollte, so blieb Muslim eben Muslim und Heide eben
Heide. Um diesem Dilemma aus dem Weg zu gehen, man machte ihn eben schlicht "zu dem, was man anzuerkennen
gewohnt ist, zum Ritter, möglichst zum christlichen Ritter" (ebd.)
Diese Anverwandlung ist mit unserem modernen Verständnis von "echter
Humanität" indessen nicht ohne weiteres vereinbar.
Grotzfeld
(1978) ist daher beizupflichten, wenn sie schreibt, dass "echte
Humanität" eben die Bereitschaft voraussetzt, "den andern in seiner
Andersartigkeit anzuerkennen und zu tolerieren, Großes und Edles auch da
zu sehen, wo man bisher nur Schlechtes, Unedles zu sehen gewohnt war."
Der
Saladin,
den
Lessing
im "Nathan"
gestaltet hat, soll dem historischen Saladin indessen auch nicht gerecht
werden. Und so schrieb Lessing auch kein historisches Drama, sondern ein
Drama, dem es darum geht, den Gedanken religiöser Toleranz auf die Bühne zu
bringen. Dass er bei der Dramatisierung dieses Themas auf den Moslem Saladin
zurückgegriffen hat, erscheint
Grotzfeld
(1978) nach Lage der Dinge " fast
selbstverständlich" , auch wenn Saladin in Wahrheit "so orthodox, so im
Islam verhaftet (war), dass er gegen eine andere Religion als solche
nicht - (in Lessings Sinn) - tolerant sein und die Christen als eine dem
Muslim ebenbürtige Religionsgemeinschaft anerkennen konnte." Dementsprechend
entspricht
die an Marin und Voltaire
angelehnte
Gestaltung und Charakterisierung der
Figur des Sultans in Lessings Drama auch genau "den
Forderungen für den Charakter des biedermännischen Helden im Bürgerlichen
Trauerspiel" (Barner
u. a. 1987, S.321ff.). Dass er dabei auf den Mythos des "edlen Sultans",
des "edlen Sarazenen" Saladin zurückgriff und diesen Mythos in Europa bis
heute weiter stärkte, versteht sich fast von selbst. Als Personifikation
"der Idee der Versöhnung, der Ritterlichkeit, des Edlen im Menschen, gleich
welcher Religion" (Grotzfeld
(1978, S.483f.)
hat er das Denken über Humanität und Toleranz jedenfalls nachhaltig
beeinflusst.
Allerdings bleibt unter religionskritischem Aspekt aber bemerkenswert, dass
Lessing
im "Nathan"
Versöhnungsbereitschaft, Weisheit und edle Größe nicht im
Patriarchen,
im Vertreter der christlichen Religion, (...), sondern im Juden
Nathan, der
den Sultan Saladin überzeugen kann", verkörpert. (ebd.)
Barner
u. a. (1987, S.321ff.) haben in folgender Weise untersucht, wie Lessing
die Figur Saladins konzipiert hat: "Gleich in seinem ersten Auftritt zeigt sich der Sultan wie
ein bürgerlicher Hausvater von Geldsorgen geplagt: »es klemmt sich
aller Orten« (II,1)
Heroismus erscheint an ihm nur noch als Zitat und als Gestus der Ohnmacht
gegenüber der Finanznot: »Ein Kleid, Ein Schwert, Ein Pferd, - und
Einen Gott! Was brauch ich mehr?«. Ganz im Gegensatz zu dieser Parole
des Heiligen Eroberungskrieges, den der Koran dem Gläubigen gebot, sehen
seine weltpolitischen (Heirats-)Pläne eine friedliche Überwindung des
blutigen Konflikts zwischen den Religionen vor (II,1).
[...]
Dass
Saladin
[...] einem Feind aufgrund einer plötzlich empfundenen Zuneigung das
Leben schenkt (s.
I,5
und
IV,4),
kann nach der Theorie des bürgerlichen Dramas als Indiz seiner
Menschlichkeit betrachtet werden und macht ihn zum Helden geeignet.
Maximen des politischen Rationalismus sind nicht von Saladin, sondern von
Sittah
zu hören."
Sie ist es auch, die "Realprinzipien der Macht" (Kröger
1991/98, S.42) wie "Kälte der Vernunft, selbstverständliche Handhabe
herrscherlicher Macht, Wissen um die Bedeutung des Geldes" (ebd.)
in Denken und Handeln des Herrschers einbringt.
Trotz allem: Auch die persönliche Integrität Saladins kann nicht
grundsätzlich darüber hinwegtäuschen, dass auch "sein Regiment vom Makel
absolutistischer Willkür gekennzeichnet" ist (Barner
u. a. (1987, S.321ff.) Dies wird beim Schachspiel mit seiner Schwester
Sittah deutlich (II,1
u.
2),
bei der die Finanznot des Sultans zur Sprache kommt. Seine Macht, das zeigen
auch die zunächst ausbleibenden und später eintreffenden Tributzahlungen aus
Ägypten, beruht "auf der Ausplünderung seiner Untertanen" (Kröger
1991/98, S.42), auf die auch der gütigste Sultan im Interesse des
eigenen Machterhalts nicht verzichten kann. So stellt denn auch Lessing den
Sultan beim Schachspiel nicht zufällig beim Spiel vor, denn "Zeremoniell und
Spiele hatten an den Höfen die Funktion, die Souveränität des Fürsten zu
repräsentieren und gottähnliche Omnipotenz zu prätendieren.1)"
(Barner
u. a. 1987, ebd.) Und: Die "verschwenderische Mildtätigkeit Saladins" (ebd.)
entpuppt sich bei genauerem Hinsehen denn auch als ein "Verhalten Saladins, das insgesamt nichts bessern kann und nur
den Mythos von der Gottähnlichkeit des Fürsten festigen soll, in
sozialethischer Hinsicht unverantwortbar und zudem Ausdruck persönlicher
Schwäche. Insofern ist Nathan der Weise ein radikaler Bruch mit
der Apologetik
2)
der Höfe im klassizistischen Drama." (ebd.)
Und genau dies bringt ihn in einen Gegensatz zu Nathan, der seine Mittel
wohlüberlegt einsetzt, um das Ziel einer humanen Welt zu erreichen. Daher
ziehen
Barner
u. a. (1987, ebd.) den Schluss: "Wenn der Nathan Ausdruck
des gestiegenen bürgerlichen Selbstbewusstseins ist, hält er
auch am Gedanken fest, dass soziale Veränderungen sich am besten
über Bildung und Erziehung der Individuen und besonders eben der
Fürsten herbeiführen ließen. Diese Bildungsidee wurde durch das
Revolutionsziel erst ersetzt, nachdem in Frankreich die
bürgerliche Revolution gesiegt hatte." (▪
Egle, Gert (2012): Saladin, der
edle Sarazene, und
der Kreuzfahrerstaat in Jerusalem)
WORTERKLÄRUNGEN
1
prätendieren:
beanspruchen, Anspruch erheben
2
Apologetik:
Verteidigung, Rechtfertigung
▪
Figurengestaltung in dramatischen Texten
▪
Kontrast-
und Korrespondenzbeziehungen der Figuren
▪
Figurencharakterisierung
▪
Techniken
der Figurencharakterisierung in dramatischen Texten
▪
Auktoriale Techniken
▪
Figurale
Techniken
▪
Saladin, der
edle Sarazene, und
der Kreuzfahrerstaat in Jerusalem (Gert
Egle, 2012)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
28.04.2021