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»Wilhelm Dilthey
(1883-1911)
Die Entstehung
einer inneren Gemeinschaft, unabhängig
von Nation, Bekenntnis, Stand und Wirken
in der Welt (1867)
Und
welches ist nun die Handlung, mittels derer diese freien Geister miteinander
verbunden sind? Sie beruht auf dem dargelegten Moment, das dem Drama
Lessings erst sein eigenstes Gepräge gibt. Es erweitert die Seele durch
große Wahrheiten; es erhebt sich durch die Anschauung freier Charaktere,
welche ohne die Beweggründe des positiven Religionsglaubens das Gute tun:
seine letzte und höchste Wirkung liegt doch in der Rührung, welche die
Verbindung dieser menschlichen zu einer neuen Gemeinschaft hervorruft. Nicht
Leidenschaft vereinigt sie. Wohl macht sie sich in den Beziehungen zwischen
dem Tempelherrn und Recha zunächst geltend, sie schürzt den Knoten des
Stücks, aber sie wird aufgelöst in das starke, ruhige Gefühl
geschwisterlicher Zusammengehörigkeit. Hier herrschend die universalen
Stimmungen, die aus den höchsten Relationen zur unsichtbaren Welt
entspringen, aus dem Verhältnis derer, die gemeinsam in dieser Religion
leben. Leise kleine Fäden gehen zwischen diesen Personen hin und her - ein
Entdecken verwandter Naturen, ein Sichbefreunden, ein reinstes Glück, das
von da ausgeht.
Die Gemeinschaft, die so entsteht, ist eine innere, unabhängig von Nation,
Bekenntnis, Stand und Wirken in der Welt. Wir alle sind durch die Ziele,
die wir im Leben verfolgen, mit anderen zu einem Gefüge von Handlungen und
Schicksalen verknüpft, das unsere äußere Welt ausmacht, In ihr siegen oder
unterliegen wir, leiden oder triumphieren. Ihr gehören zunächst auch die
Personen des Stückes an: sie leben in Staatsgeschäften, führen Krieg,
treiben Handel, vollziehen fromme Pflichten. Aber jenseits dieses äußeren
Lebensgefüges dulden und genießen sie ein von diesem äußeren Schicksal
Unabhängiges. Dieses macht sie in letzter Instanz, in einer rein innerlichen
Welt, gebunden oder frei, glücklich oder elend. Mag nun der Mensch wie der
Klosterbruder oder Al Hafi die Welt verlassen, oder mag ihm wie dem Nathan
ein eingeschränktes Geschick beschieden sein. oder wie dem Saladin ein
königliches Wirken -
gemeinsam ist ihnen nach Lessing die Anlage, sich zu vollendeter
Menschlichkeit zu entwickeln. Und das verbindet sie miteinander. So
schildert das Gedicht, in Übereinstimmung mit dem eigensten und höchsten Zug
der deutschen Aufklärung, wie aus freier Menschlichkeit eine Gemeinschaft
entsteht, ein Bewusstsein, zusammen fortzuschreiten, einer besseren
Gesellschaft entgegen, sicheres Vertrauern, Seelenruhe, eine große
Lebensfreude, Heiterkeit. [...]
Wie die Vernunftreligion, in der für Lessing diese Beziehungen gegründet
sind, im Denken beruht, so
nähern sich auch die Personen einander durch das Denken - fragend,
antwortend, dialektisch ihre Verständigung suchend, aus der dann erst
das gehaltene Gefühl des Einverständnisses und der Befreundung hervorbricht.
Diese Vorgänge sind zusammengefasst zu einer Handlung, die in einem äußeren
Symbol die erreichte Gemeinschaft der freien Geister zum tiefsten Ausdruck
bringt. Nicht durch Affekt, welcher die Kluft der Geburt, des Blutes, ja des
religiösen Glaubens selber überspringt, wird im Verlauf der Handlung
zwischen Judentum und Christentum das Band geknüpft; vielmehr blutsverwandt
sind die Nationen, sind die großen Religionen, welche sich die Erde teilen.
Fremd, ja feindlich einander gegenübertretend, entdecken sie, dass sie eine
Familie bilden. Das ist das große Geheimnis, welches der Schluss
symbolisch ausdrückt.
Auf
einem Stamm sind die religiösen Ideen gewachsen, entsprossen aus
einer Einheit des ersten Glaubens; sie bilden eine Entwicklung
der religiösen Vernunft."
(Wilhelm
Dilthey
1867, S.56-58)
Dieser Auszug aus einem Werk (von Wilhelm Dilthey),
das durch
Gert Egle gekennzeichnet wurde,
unterliegt keinen bekannten urheberrechtlichen Beschränkungen.
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Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
16.12.2023