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Die Schlussszene des Nathan, die in einem
Schlusstableau die
Auflösung der verwickelten Familienstrukturen bringt, hat die
wissenschaftliche Forschung immer wieder zu kontroversen Deutungen angeregt.
Was sich vielen Rezipienten Ende des Stückes in "der großen Erkennungs- und Familienszene im
Palast Saladins" (Arendt 1984,
S.46f.) aufdrängt, sind Vorstellungen von einem Happy End, das aber
irgendwie unbefriedigend bleibt. Insbesondere Jugendliche von heute, die
aufgrund ihrer vielfältigen Medienerfahrungen vielleicht dazu neigen,
Beziehungen und ihren Entwicklungen mehr Aufmerksamkeit zu schenken als
philosophischen Ideen, missfällt dabei immer wieder, dass die geradezu
romantisch-schwärmerisch angelegte Liebesbeziehung zwischen Recha und Nathan
letzten Endes unerfüllt bleibt.
Ihnen bleibt damit zunächst fremd, inwiefern
und wie Lessing in seinem Stück eine "Ethik für das moderne, autonome
Individuum" aufzeigt, "das sich von blinden genealogischen - ethnischen,
religiösen, feudalen - Zugehörigkeiten befreien muss." (Schneider
2007, S.478) Die bürgerlichen Tugenden wie "Humanität, Toleranz,
Gerechtigkeit, Mitleidsfähigkeit, Sittlichkeit, Gefühlsreichtum usw." (Stephan
1989/92, S. 136), die das Stück ansonsten wie andere "bürgerliche"
Dramen der Zeit auszeichnen, können bei einer Fokussierung auf das fehlende
Happy-End für Recha und den Tempelherrn leicht aus dem Blickfeld geraten.
Und dabei ist die Enttäuschung darüber eigentlich kaum zu verdenken, klingt
doch die Reaktion, die der Tempelherr auf die Enthüllung der Tatsache zeigt,
dass er der Bruder Rechas sei, wenig überzeugend, vielleicht sogar ein wenig
lächerlich:
Ihr nehmt und gebt mir, Nathan!
Mit vollen Händen beides! - Nein! Ihr gebt
Mir mehr, als Ihr mir nehmt! unendlich mehr!
(Recha um den Hals fallend.)
Ah! meine Schwester! meine Schwester!
Wenn man also in Betracht zieht, dass Recha und ihr Tempelherr unter
anderen Vorzeichen als "verliebtes Paar" eine gewisse "freudige
Begeisterung" in das Schlusstableau hineinbringen hätten können (Kröger
1998, S.56f.), ist auch der Gedanke nicht fern, dass die beiden am Ende wie "zwei begossene Pudel"
(Wolf-Hartmut Friedrich*) dastehen.
Mag sein, dass eine solche Sicht auf das
dramatische Geschehen nicht zur Kenntnis nimmt, wie Friedrich meint, dass
Lessing von Beginn an psychologische Signale gesetzt habe, die bewirken
können, dass Rechas Schwärmerei für ihren Retter, den Tempelherrn, nicht als
Liebe verstanden wird. (vgl. ebd. zit. n.
Wolfgang
Kröger 1998, S.56f.) So nimmt schließlich auch Recha in ihrem
Gespräch mit Daja
(III,3)
"befremdet" zur Kenntnis, "wie / Auf einen solchen Sturm in meinem Herzen /
So eine Stille plötzlich folgen" konnte. Was sich auch in ihren folgenden
Äußerungen niederschlägt, atmet daher auch weniger die Luft von
Leidenschaft. Stattdessen bringen sie eine Vertrautheit zum Ausdruck, die
bestenfalls in einem sublimierten Sinne Verliebtheit artikuliert.
Auf die
Frage Dajas hin, ob ihr "heißer Hunger" schon von einer einfachen Begegnung
mit dem Tempelherrn gestillt sei, ob sie also nicht mehr von ihm wolle,
antwortet sie ausweichend ("Nun ja / Wenn du so willst.") Dann setzt sie
fort:
Er wird/
Mir ewig wert; mir ewig werter, als
Mein Leben bleiben: wenn auch mein Puls
Nicht mehr bei seinem bloßen Namen wechselt;
Nicht mehr mein Herz, so oft ich an ihn denke,
Geschwinder, stärker schlägt. - Was schwatz' ich? [...]
Auch wenn Recha hier, ganz naiv ausplaudert, dass die Schwärmerei für den
Tempelherrn nicht mehr jene Gefühle hervorruft, die einen, wenn man verliebt
ist, überwältigen, wird man darin doch kaum schon eine "geschwisterliche
Vertrautheit" erkennen, wie Friedrich behauptet hat. Allerdings wird damit
schon darauf hingedeutet, dass die vermeintliche "Liebe" von Recha und dem
Tempelherrn keine Zukunft haben könnte, weil ihr letzten Ende die dafür
nötige emotionale Grundlage fehlt.
Auf der ansonsten weitgehend Harmonie
verströmenden Schlussszene liegt ein gewisser Schatten: Denn, wie
Bekes
(1988, S. 40f.) im Anschluss an
Durzak
(1985, S.127) betont, werde der Leser / Zuschauer bei aller
emotionalen Teilhabe eben nicht vergessen, "dass die Wiedererkennung der
Liebenden als Geschwister auch mit Entsagung und Verlust verbunden ist. »Die
Liebe, die Recha von Anfang an für den Tempelherrn empfindet und die nach
hartnäckiger Weigerung auf Seiten des Tempelherrn plötzlich auch bei ihm für
Recha entflammt, wird am Ende im geschwisterlichen
Zusammengehörigkeitsgefühl aufgehoben (zumal sie unter dem Inzestverbot
steht), aber bedeutet praktisch umfassenden Triebverzicht, Verzicht auf das
individuelle Glück partnerschaftlicher Liebeserfüllung. Das bleibt ein
Irritationsmoment, das auf das harmonische Familientableau des Endes
einen Schatten wirft.« (Durzak
1985, S.127)"
Nichtzuletzt diese Trübung der Harmonie in der Schlussszene verweist
deutlich über das eigentliche Geschehen hinaus. So lassen sich etliche
symbolische und parabolische Züge (vgl.
Arendt 1984,
S.46f.) erkennen, die auf unterschiedliche Art und Weise entschlüsselt
werden können.
Auch die Tatsache, dass Lessing Nathan am Ende außerhalb der
blutsverwandschaftlichen Beziehungen der wiederhergestellten Familie stehen
lässt, hat zu unterschiedlichen Deutungen Anlass gegeben und ist auch in der
Aufführungsgeschichte des Stücks verschieden szenisch realisiert worden.
Obwohl die letzte Bühnenanweisung im
Nebentext lautet: "Unter
stummer Wiederholung allseitiger Umarmungen fällt der Vorhang." hat
man Nathan auf der Bühne oft von diesen Umarmungen ausgeschlossen und ihn am
Ende allein auf der Bühne gelassen und damit eine Außenseiterposition
betont, (vgl. Nisbet 2008, S.805) auch wenn dies die eigentliche Botschaft des
Schlusstableaus mehr als bloß verzerrt.
Dennoch darf die Frage gestellt
werden, warum Lessing Nathan am Ende nicht zu einem Blutsverwandten macht.
Ursprünglich hatte er ja sogar als Idee für den Schluss die
Doppelverlobung
von Recha mit Saladin und Sittah mit dem Tempelherrn ins Auge gefasst.
(Die Idee klingt noch in einer
Äußerung Dajas (IV,8) an.) Dass
Nathan in der Endfassung, blutsverwandschaftlich betrachtet, außerhalb der
wiederhergestellten Familie steht, bedeutet indessen keineswegs, dass er
nicht zur "Weltfamilie" zählt, auf die Schluss und allseitige Umarmungen
verweisen.
Der Grund für diese Stellung Nathans könnte sein, dass, "anders
als das Christentum und der Islam, das Judentum nicht nur eine religiöse,
sondern auch eine ethnische Gemeinschaft ist, Nathan also nicht in vollem
Umfang der Vertreter des jüdischen Glaubens sein könnte, wenn er einer
Mischehe entstammte oder eine Mischehe einginge." (ebd.)
So kann man "in der großen Erkennungs- und Familienszene im
Palast Saladins" (Arendt 1984,
S.46f.) die symbolische Botschaft gestaltet sehen, "dass alle Menschen von
Natur verwandt, Brüder sind." Dies entspräche auch zeitgenössischen
pietistischen Auffassungen des erstarkenden Bürgertums, das auf die "Formel
von der Bruderschaft, Brüderlichkeit und der brüderlichen Menschheit"
gebracht werden könne. (ebd.)
Aber auch eine entschieden aufklärerische Sicht auf die
Menschheitsgeschichte wird darin sichtbar, wenn die Menschheit als große
Familie dargestellt wird. Die Entfremdung von ihrer Natur, welche die
Menschen im Laufe ihrer Geschichte vollzogen haben, " indem sie ein alle
verwandten Glieder trennendes System entwickelt haben, scheint wieder in
ihre ursprünglichen Rechte eingesetzt zu sein;" (ebd.)
Dass dies am Ende des Dramas gelingt, ist das eigentlich aufklärererische
Happy End der Geschichte, "die Menschheit als große Familie" entpuppt sich
als "das Werk der Vernunft". (ebd.)
Und darin hat ein Aufbegehren der beiden Geschwister keinen Platz, der
Gedanke allein ein "unvernünftiger" Tabubruch. Als solcher gehört er auch
nicht zu dem wie ein "Entwurf einer von der Vorsehung geordneten Welt"
(Barner
u. a. 1987, S.318) gestalteten Drama, das aufzeigen soll, wie "die
Diskrepanz zwischen historischer Wirklichkeit und geschichtsphilosophischem
Ziel" von den Menschen überwunden werden kann.
Das Mittel dazu: Erziehung
der Menschheit zur Toleranz, die schließlich auch "das Glück der menschheitlichen
Familie am Schluss des Nathan begründet" (ebd.)
Im Grunde genommen geht die Vereinigung zur Menschheitsfamilie aber nur,
weil die Beteiligten der Schlussszene deutlich "über das Stadium des bloßen
gegenseitigen Tolerierens hinausgekommen sind: sie haben bereits mehr
Verbindendes gefunden, das sie in Freundschaft vereint, als
Unterscheidendes, das sie trennt." (Nisbet
2008, S.806)
Dass Toleranz im Sinne von Duldung nur etwas Vorläufiges
sein kann ist die eine Botschaft, die im Schlusstableau des "Nathan"
gestaltet wird. Die andere aber ist: Solange nicht wenigstens einige
gemeinsam geteilte kulturelle Wertvorstellungen zwischen Menschen
unterschiedlicher Religionen vorhanden sind, bleibt Duldung ein in höchstem
Maße fragiler Zustand, den auch dafür geschaffene Toleranzgesetze nicht
immer stabilisieren können.
Im "Nathan" schließt das Modell der Familie, deren Wiedervereinigung am Ende
"in erster Linie auf gegenseitiger Anerkennung und Liebe (beruht) " (ebd.,
S,805) den "sozialethische(n) Gehalt der Utopie" der Menschheitsfamilie ein
(Barner
u. a. 1987, S.318),
die auch christlichen Sozialvorstellungen mit ihrer Betonung der Familie
entspricht.
Dass Lessing "am Ende des Dramas alle Figuren, Christ, Jude und
Muslim, zu einer muslimischen Familie zusammenschließt" (Muslim
2010, S.249) hat dabei wahrscheinlich mit Lessings Wertschätzung für
den Islam als "natürliche" Offenbarungsreligion zu tun, die sich dazu
nicht nur wegen ihrer Toleranz gegenüber anderen Religionen auszeichnet
(Nisbet
2008, S.805), sondern auch durch den "gesunden Menschenverstand",
welcher den Koran leitet. (vgl.
Muslim 2010, S.249)
Dass sich die Schlussszene dabei durchaus im Grenzbereich zum
bürgerlichen Familien- und Rührstück bewegt, zumindest aber eine rührselige
Rezeption ermöglicht ("rührt zwar, aber [...] erzeugt keine
Rührseligkeit",
Bekes 1988, S. 40f.),
wird in der Forschung immer wieder betont und kontrovers beurteilt. So meint
Kröger (1998, S.56 f.), dass das Drama mit seinem Schlusspunkt des
familiären Wiedererkennens ganz auf der Linie zeitüblicher Rührstücke liegt,
in dem sich "in der Idylle der Familie [...] die Utopie des Heilen und
Heilgebliebenen [spiegelt]". Mehr noch: "Die Utopie bekommt die Richtung
einer Regression ins Bescheiden-Häusliche."
Barner
u. a. (1987, S.318) betonen dagegen den symbolischen Charakter der "'stummen
Wiederholung allseitiger Umarmungen', in die der Verständigungsdialog
mündet". Dieser verlange vom Rezipienten, das Stück "nicht als eines
bürgerlichen Familien- und Rührstücks, sondern als dezidierte
Dramatisierung des geschichtsphilosophischen Entwurfs" zu sehen: "Aus
Bildern und Begriffen seiner Zeit schuf Lessing ein
utopisches Zeichen für
die geschichtliche Bestimmung des Menschen: die Vollendung der Schöpfung als
Einheit des sittlich vollkommenen Individuums mit der Gemeinschaft.
Der Nathan erscheint aufgrund der leiblichen und geistigen
Verwandtschaftsbeziehungen über die Schranken von Religion und Stand hinweg
als Andeutung des Zeitalters des Dritten Evangeliums, wie es in der
Erziehung
des Menschengeschlechts verheißen ist." (ebd.)
So ist auch für Peter
Bekes
(1988, S. 40f.) "die Schlussszene [...] kein Genrebild im Stile
einer biedermeierlichen Familienidylle" und die Reaktion des Tempelherrn scheint
ihm, "wenn man sich
an sein voraufgegangenes emphatisches Werben um Recha zurückerinnert,
fast ein wenig aufgesetzt." Und noch ein weiteres steht, so Bekes einer
rührseligen Rezeption im Wege: "Nathan ist der einzige in dem Tableau, der aus
dem umfassenden blutsverwandtschaftlichen Zusammenhang ausgeschlossen
bleibt. Der Familie fehlt der natürliche Vater; ihr eigentlicher, ihr
spiritueller Vater ist Nathan geworden. [...] Seine Vaterschaft ist keine
zufällige Gegebenheit, sondern er dankt sie, wie er eingangs formuliert,
der Tugend. Das, was die natürliche Blutsverwandtschaft noch nicht
gewährt, den Anspruch auf Zuneigung, kann die Adoptivvaterschaft durch
eine vernünftige Erziehung begründen, durch eine Ausbildung, die zur
Mündigkeit des Selbst führt.
Genauso wie die Ringparabel den engen Horizont des Sultans transzendiert
und das Problem der religiösen Wahrheit in dem Postulat nach humaner
Toleranz aufgehen lässt, gewinnt die familiäre Wiedererkennungsszene am
Ende eine allgemein menschliche Transparenz. Das Tableau ist parabolisch
zu verstehen. Es transponiert den Rat des Richters auf eine
sinnlich-konkrete Ebene. Die Szene wird so zum Vorschein für die
Möglichkeit menschlicher Kommunikation schlechthin, die sich aus den
Fesseln der Rolle, des Standes und der Religion, überhaupt des Vorurteils
befreit hat. [...] Im Familienbild finden sich Menschen als Menschen
wieder."
Ähnlich urteilt auch
Kaiser (1976b, S.133ff.) über das Schlusstableau des Stückes, wenn er
betont, dass die Überhöhung des Schlusses zum
Tableau,
einem aus dem Fluss des Geschehens herausgehobenen Bild und Sinnbild des
Vollkommenen" eben keine keine Erfahrung, sondern eine Idee sei.
Und die äußerst unsichere politische Situation des Waffenstillstandes,
in die die Szene eingebettet ist (auch Saladin erinnert sich am Ende
noch einmal daran, dass er beinahe den Sohn seines Bruders (Tempelherr)
hatte hinrichten lassen), zeigt dass "die Bruderschaft aller Menschen
und der ewige Friede, die die Schlussszene beschwört, (...) als
regulative Ideen - noch in unbestimmter Zukunft (liegen)." (Nisbet
2008, S.799)
Und
Sautermeister (1974b, S.142) resümiert: Am Ende "(vereinigen sich)
schließlich die von Nathan entbundenen idealen Kräfte weniger Einzelner zu
einem guten Ende jenseits der Faktizität der Historie: Zwischen fundierter
Utopie und illusionärer Märchenwelt, zwischen dem vorbildlichen Gebrauch der
Vernunft und des Reichtums einerseits und dem naiven Glauben an die
weltbewegende Macht der guten unpolitischen Tat des einzelnen andererseits
bewegt sich Lessings Drama." (Sautermeister
1974b, S.142)
* Wolf-Hartmut Friedrich, Menander
redivivus. Zur Wiedererkennung im Nathan, in: Euphorion, Zeitschrift für
Literaturgeschichte, Bd. 64, S,167-180
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Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
24.04.2021