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Das Kapitel • "Der
Prügler"
in
•
Franz Kafkas Roman • "Der
Prozess" ist in der wissenschaftlichen Literatur immer
wieder Gegenstand von Interpretationen geworden, weil es nicht zuletzt "als
prophetische Darstellung unmenschlicher Gewalt und Folterung in totalitären
Systemen angesehen" worden ist. (Beicken
1995/21999, S,59)
Moderne
Interpretationen
haben dies mittlerweile hinter sich gelassen. So betont
der Kafka-Biograph
Alt (22008, S.390): "Statt seine erzählerischen Konstruktionen
immer wieder auf die nominell existierenden Rechtsordnungen in Geschichte
oder Gegenwart zu beziehen, sollte man sie aus ihrer internen Systematik zu
verstehen versuchen." So sei es zwar möglich, dass in der außerliterarischen
Umwelt ähnliche oder sogar identische Kategorien existieren, jedoch bestimmen
diesen ihren spezifischen Sinn innerhalb der Romanerzählung nicht. [...] K.s
Schuld, die Zurüstungen des Gerichts und Arbeit seiner Organe lassen sich
allein aus der internen Struktur des Romans begreifen."
In diesem Sinne geben auch die drei folgenden Interpretationen Aufschlüsse über die so genannte Prüglerszene, allerdings mit unterschiedlicher Gewichtung.
Für Christine Lubkoll lässt sich "Struktur und Funktionsweise der Macht" in
Kafkas Roman u. a. beschreiben als ein "weitverzweigtes, dezentrales System
von Teilfunktionen", die ohne eine verantwortliche Schaltstelle zu haben,
die bildliche Vorstellung "eines wuchernden Verästelungssystems" erzeugen.
Dabei agieren - so Lubkoll - die Institutionen und Figuren in einem
bürokratischen Apparat, der "sich lediglich durch Stellvertreterfunktionen"
offenbart. Sie handeln nahezu ohne den geringsten Einblick ins System. Indem
Lubkoll den Akzent darauf legt, rückt sie die Strukturen dieser Macht und
Machtentfaltung in den Blick:
"Durch die Vernetzung der zahlreichen Subsysteme und durch deren bloße
Stellvertreterfunktion herrscht eine permanente Fluktuation zwischen Opfer-
und Täterbereitschaft. Indem das Romanpersonal - Wärter, Advokaten, Richter,
Angeklagte und Bedienstete - indem sie alle der Macht unterworfen sind und
zugleich an ihr teilhaben, erhält das System Stabilität. Nicht zuletzt gilt
dieser Mechanismus auch für den Protagonisten selbst. Josef K. erscheint ja
mitnichten als bloßes Opfer einer Machtmaschinerie, sondern er funktioniert
zugleich als eines ihrer Rädchen: in der Bank etwa, wo er selbst eine höhere
Position einnimmt und Klienten auflaufen lässt; in der Prüglerszene, wo er
in einer Mischung aus voyeuristischer Angst und Lust zum Mittäter wird, zu
erwähnen wäre noch das Herr-Knecht-Verhältnis zwischen Josef K. und
dem Kaufmann Block. Der Process beschreibt so nicht ein starres,
repressives Modell, sondern die Dynamik einer passiven und zugleich aktiven
Machterfahrung. [...]"
(Lubkoll
1990, S-79-294)
Peter-André Alt, der - wie weiter oben schon ausgeführt - nicht ablässt,
zu betonen, dass man K.s Schuld, das Gerichts und seine Organe "allein
(!) aus der internen Struktur des Romans begreifen" müsse, richtet sein
Augenmerk auf innerpsychische Faktoren von K. Dabei beschreibt er die teils
gelingende, teils scheiternde Verdrängung von Ängsten Josef K.s und die
davon rührenden Bedeutungszuschreibungen für die Dinge und Ereignisse
einer nach außen projizierten, sich gewissermaßen in Objektivationen des
Psychischen, zeigenden, traumähnlich gestalten imaginären Vorstellungswelt.
"Zu den eindrucksvollsten Merkmalen des Proceß-Romans gehört seine
Kunst, die Bilder einer subjektiven Strafphantasie so zu verknüpfen, dass
sie einen objektiven Charakter annehmen. K.s Schuld ist zunächst
ein Schuldgefühl, das seine Entsprechung in den Aktivitäten der
Rechtsbehörden findet. Diese wiederum zeigen zwar durch die fehlende
Trennung von judikativer, legislativer und exekutiver Macht einen
totalitären Zug, jedoch sollte man der Versuchung widerstehen, sie aus
diesem Grund als literarisches Zeugnis einer Kritik an undemokratischen
Rechtsbegriffen aufzufassen. K.s Geschichte ist der Traum von der Schuld -
ein Angsttraum, der sich in den imaginären Räumen einer befremdlichen
juristischen Ordnung als Widerschein psychischer Zustände abspielt. Man kann
den Roman folglich als Reflexion dieser Schuld, zugleich aber auch als
unheimliche Beschreibung eines Rechtsapparates lesen, den sich das
individuelle Schuldbewusstsein selbst vorstellt. Die damit verbundene Furcht
vor der Bestrafung erzeugt wiederum in Kafkas Protagonisten den Mechanismus
der Verdrängung im Zeichen von Hybris und Selbstherrlichkeit. […] Das
Verdrängte freilich taucht in der Bildern des Schuldgefühls machtvoll wieder
auf. Die neugierigen Nachbarn, die voyeuristischen Bankbeamten und der
Direktor-Stellvertreter repräsentieren es im Verlauf des Romans ebenso wie
die labyrinthischen Räume des Gerichts oder die von K. zuvor ignorierte
«Rumpelkammer» der Bank, in der der Prügler die Wächter Franz und Willem
züchtigt."
(Alt
22008, S.391)
Norbert
Schläbitz und Johannes Diekhans rücken bei ihrer Interpretation die
Wirkungsweise verschiedener Formen von
Verdrängung (→Abwehrmechanismen des Ichs)
in den Mittelpunkt der Betrachtung, die K. quasi auf dem Weg einer
"klassischen"
(Affekt-)Verschiebung zum Täter in der Prüglerszene werden lässt. "Es geht so auch bei K. um nicht wahrgenommene Verantwortung und
um einen
Verdrängungsprozess, der - im Angesicht zu erleidenden Ungemachs - einsetzt
und so die eigene Untätigkeit - das Nichteinschreiten und Geschehenlassen -
legitimiert. Und damit wird bei K. und dessen Schuld und Verantwortung, denn
gerade auch K. erweist sich als Steigbügelhalter der Macht und macht sich
schuldig. Wohl sieht er das Unrecht, aber er wäscht sich wortreich rein von
Schuld. [...]
Nicht untypisch in diesem Zusammenhang ist, dass, wo man der anonymen,
unerreichbaren Machthaber nicht habhaft werden kann oder diese sich nicht
anzuklagen traut, die Opfer für ihr persönliches Leid verantwortlich gemacht
werden. Die Bestrafung erfolgt, weil - so der Gedankensalto K.s - eines der
Opfer, während es geschlagen wird, schreit. [...] Da bleibt kein Zweifel
mehr, wer Schuld hat: das Opfer. [...]"
Dass sich Josef K. schuldig fühle, so die Autoren, zeige sich daran, dass
sich die Szenerie am nächsten Tag nicht verändert, was darauf schließen
lassen, dass eine Verdrängung der Vorkommnisse nicht möglich ist. Alle
Versuche dafür seien letzten Endes gescheitert. Aber, wer die Josef K.
einfach bei Augen zumache, sorge damit auch dafür, dass sich das Übel
fortsetzen könne, denn "solange
K. passiv bleibt, die Tür verschlossen hält oder nach unbedachtem Öffnen sie
gleich wieder zuwirft, wird hinter der Tür geschlagen. Zum Komplizen, wenn
nicht gar zum Täter wird damit auch K. Er wie jeder andere, der wegsieht,
lassen geschehen, sind der Nährboden, auf dem Gewalt und Unrecht gedeihen
können." Dabei falle das Verhalten, das K. zeige nicht aus dem Rahmen
dessen, was er die ganze Zeit über tue: "Er lamentiert, protestiert und
proklamiert immer wieder, lässt seinen Worten aber keine Taten folgen. Er
suggeriert Aktivität, verbleibt aber letztendlich in der Passivität. Er baut
so mit an der machtvollen Organisation und konstituiert erst das
Selbstgericht."
(Schläbitz/Diekhans
2006, S. 50f.)
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Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
25.11.2023
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