Kafkas ▪
Parabel ▪
»Heimkehr«
kann, wie alle seine Parabeln und parabolischen Erzählungen, auf ganz unterschiedliche Art und Weise
verstanden und interpretiert werden.
Dessen
ungeachtet hat die literaturwissenschaftliche Forschung, ungeachtet der
deutlichen •
biografischen Bezüge, die der Text aufweist, lange Zeit
nahezu unisono und geradezu apodiktisch vertreten, dass sich die
Interpretation "an der biblischen Vorlage zu orientieren" habe, die nur
im im Vergleich mit ihr, Profil gewinne. (Bekes 1988a,
S.10)
Ohne jeden
Zweifel wird das biblische Gleichnis als unverzichtbarer "Bezugstext" (Meurer 1988/31998,
S.83) verstanden, der zeige, "wie sehr das •
Motiv der Heimkehr symbolisch besetzt ist". (Niehaus
2010, S.111) Und auch Sudau
(2021, S.71) betont, dass der Bezug zum biblischen Gleichnis vom
verlorenen Sohn kaum wegzudenken sei und als weiter reichender Sinn
unweigerlich mitschwinge. Dabei ziele dieser "nicht nur auf den Verlust einer
individuellen Vater- oder Familienliebe (...) sondern zusätzlich auf
den Verlust der göttlichen Vaterliebe." Ganz im Sinne der •
existenzialistischen
These von der
"kosmologischen Obdachlosigkeit" (Yun
Mi Kim 2012, S.22
des erzählenden Ichs akzentuiert auch Sudau die "transzendentale
Obdachlosigkeit" des von Heimat- und Familienverlust betroffenen
Ich-Erzählers, auch wenn er ansonsten diesen textexternen Bezügen im
Gegensatz zu zahlreichen anderen nicht ausführlich nachgeht.
Bekes (1988a,
S.10) sieht in der Tatsache, dass •
Kafkas
Geschichte im Gegensatz zur biblischen Parabel der Kontext fehle, den
hauptsächlichen Unterschied zwischen beiden Texten. Weil Kafkas Text
sämtliche Fragen, die sich im Zusammenhang mit der Rückkehr des
erzählenden Ichs ins Elternhaus stellen, unbeantwortet lasse und eine
Sachhälfte, auf die sich der Bildbereich explizit beziehe, fehle,
überlasse er es dem Leser, diese
Unbestimmtheitsstellen zu füllen.
Besondere Aufmerksamkeit verlange,
so
Bekes (1988a,
S.10)
die von Kafka in seinem Text verwendete
• Ich-Perspektive, im Sinne der •
traditionellen Erzähltheorie von »Franz
K. Stanzel (geb. 1924) die sich klar
von der •
neutralen Perspektive in der biblischen Vorlage unterscheide.

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Im Vergleich der beiden Texte gelangt
Bekes (1988a,
S.12) zum Schluss, dass der Unterschied zwischen beiden vor allem in den
"verschiedenen Wirklichkeitsinterpretationen ihrer Verfasser" begründet
sei. Das Gleichnis vom verloren Sohn setze ein "immer noch geschlossenes
Weltbild voraus", auf das der Erzähler mit seiner Demonstration eines
a-typischen Einzelfalles vertrauen könne, um "diskurshaft ein
Einverständnis herbeizuführen". In Kafkas Parabel hingegen habe sich der
Bild- vom Sachbereich gelöst und so weit verselbständigt, dass der Leser
bzw. die Leserin "in einen Strudel von Reflexionen, Spekulationen und
Irritationen gerissen" werde. Dadurch werde das Verstehen selbst
problematisiert.
Für Niehaus (2010,
S.111) gestaltet Kafka in seinem Text die sein Werk immer wieder
kennzeichnende Schwellensituation, und
zwar eine Situation vor der Schwelle, die zu überwinden den
jeweiligen Protagonisten nicht gelingt. Im biblischen Gleichnis hingegen
komme diese Schwellensituation überhaupt nicht vor, weil der Vater sie
überbrücke.
Im Unterschied zu Kafkas Geschichte sei der Moment der Rückkehr der
Höhepunkt der biblischen Geschichte. Diese Rückkehr werde durch Kontexte
erläutert, die dem Leser Informationen über die Vorgeschichte des
Geschehens. So glaubt der Vater (und wohl auch der zurückgebliebene
Sohn), dass der verlorene Sohn, nachdem er das Elternhaus verlassen hat,
in der Fremde •
zu Tode gekommen ist und erlebt nun, dass er •
wieder lebendig geworden ist. ("denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig
geworden, war verloren und ist gefunden worden")
Wie
Bekes (1988a,
S.10) betont auch
Niehaus (2010,
S.112), dass das •
Fehlen solcher Kontexte in Franz Kafkas Text einen entscheidenden
Unterschied zwischen beiden Texten ausmacht. Außerdem kreisten die
Gedanken des Ich-Erzählers nicht nur um den Vater, sondern schließt eine
Gruppe der ›dort
Sitzenden‹ ein. Daher frage sich auch nicht, ob der Vater überhaupt
da sei, um ihn wieder aufzunehmen. So gebe es auch keine väterliche
Instanz, die über die Schwelle wache: "Es ist eben nur noch des
Vaters Haus da." Daher gebe es auch nicht das geringste Anzeichen
dafür, dass der Heimkehrer als Sünder zurückkehre.
Im
Hinblick auf den Bezug zum •
biblischen Gleichnis betont
Niehaus (2010),
dass der Text Kafkas "in fast allen Punkten vom biblischen Schema
abweicht." (ebd.,
S.111) Dennoch, nicht zuletzt durch die Titelgebung durch »Max
Brod (1884-1968),
wurde und werde der Text immer wieder vor dem Hintergrund des
biblischen Textes gelesen. Im biblischen Gleichnis
hingegen komme diese Schwellensituation überhaupt nicht vor, weil
der Vater sie überbrücke. Im Unterschied zu Kafkas Geschichte sei
der Moment der Rückkehr der Höhepunkt der biblischen Geschichte.
(vgl. ebd.,
S.111
Auch Meurer
(1988/31998, S.83) betont im Vergleich von Kafkas Text
mit der biblischen Vorlage, die Einbettung des biblischen Texts in
den Kontext und die ausgesprochene Gleichnisfunktion. Das Gleichnis
solle "Gottes verzeihende Gnade" zeigen, die dem reuigen Sünder
zuteil werde, selbst wenn er noch so spät umkehre und keinerlei gute
Werke vorzuweisen habe. In dem im Präteritum und der dritten Person
erzählten Text bilde zudem die dialogisch gestaltete Begrüßungsszene
den Höhepunkt.
Kafkas ▪
»Heimkehr«
gestalte hingegen nur einen bestimmten Moment der Heimkehr des
Sohnes, der in der Ich-Form erzählt werde. Dabei sei "die
Redeweise" in Kafkas Text im Grunde beschreibend. Dabei nutze der
Erzähler den inneren Monolog um zu Beginn die äußere und danach die
innere Situation zu schildern. Im Unterschied zum biblischen
Gleichnis werde die Geschichte, abgesehen von der im Perfekt
dargestellten Tatsache der schon vollzogenen Rückkehr ( ›Ich bin
zurückgekehrt, ich habe den Flur durchschritten‹, ›Ich bin angekommen‹,
im Präsens dargeboten. Nur einmal ziehe das erzählende Ich die
mögliche Zukunft mit in seine Überlegungen ein (›Wer
wird mich empfangen?‹). Vor allem aber teile Kafkas Text im
Unterschied zum biblischen Gleichnis explizit keine Lehre mit, "es
sei denn, dass man den einzigen Aussagesatz, in dem die Ich-Form
durch das verallgemeinernde ›man‹ abgelöst wird, so versteht." (ebd.)